Bundesverfassungsgericht kürzte Hartz-IV-Kürzungen – Das Urteil im Einzelnen

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Sanktionen für Hartz-4 Bezieher teilweise verfassungswidrig

Hartz-IV-Bezieher dürfen auch bei einem wiederholten Fehlverhalten bis zu einer gesetzlichen Neuregelung nicht mehr vom Jobcenter mit einer Arbeitslosengeld-II-Kürzung von mehr als 30 Prozent bestraft werden. Die bisherigen starren Vorschriften, welche zwingend für drei Monate stufenweise Sanktionen von bis zu 100 Prozent vorsehen, sind unverhältnismäßig und verletzen das vom Staat zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum, urteilte am Dienstag, 5. November 2019, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (Az.: 1 BvL 7/16).

Der konkrete Fall

Im konkreten Fall hatte ein Hartz-IV-Bezieher aus Gotha sich gerichtlich gegen zwei Sanktionen seines Jobcenters gewehrt. Die Behörde hatte dem Langzeitarbeitslosen zunächst eine Stelle als Lagerarbeiter bei Zalando vorgeschlagen. Dies lehnte er ab, weil er lieber im Verkauf arbeiten wollte. Kurz darauf ließ er auch noch einen Vermittlungsgutschein für eine Probearbeit verfallen.

Das Jobcenter minderte daraufhin das monatlich 391 Euro hohe Arbeitslosengeld II des Mannes für drei Monate um zunächst 30 Prozent (117,30 Euro) und dann wegen des zweiten Pflichtenverstoßes um 60 Prozent (234,60 Euro) auf dann noch 156,40 Euro.

Mitwirkungspflichten obsolet

Nach den gesetzlichen Bestimmungen müssen Jobcenter Verstöße des Hartz-IV-Beziehers gegen festgelegte Mitwirkungspflichten mit einer Kürzung des Arbeitslosengeldes II ahnden. Schreiben Langzeitarbeitslose etwa zu wenige Bewerbungen oder brechen ohne Grund eine Weiterbildungsmaßnahme ab, wird jeder Verstoß mit einer Arbeitslosengeld-II-Kürzung in Höhe von 30 Prozent bestraft. Die Sanktion gilt dann für drei Monate. Verpassen Hartz-IV-Bezieher unentschuldigt einen Jobcenter-Termin, gibt es zehn Prozent weniger Geld.

Für unter 25-Jährige sind die Sanktionen noch schärfer. Hier wird bereits beim ersten Pflichtverstoß die Regelleistung vollständig gekürzt, bei wiederholten Pflichtverstößen werden auch die Unterkunftskosten nicht mehr übernommen.

Mit den Sanktionen wollte der Gesetzgeber nach seinem Konzept des „Forderns und Förderns” Hartz-IV-Bezieher dazu zwingen, dass sie sich im Gegenzug für den Erhalt staatlicher Leistungen auch wirklich um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen.

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Beinahe eine Million Sanktionen

Nach den Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) wurden im Jahr 2018 insgesamt 904.000 Sanktionen wegen eines Verstoßes von Mitwirkungspflichten verhängt. Betroffen waren rund 441.000 erwerbsfähige Leistungsberechtigte, die ein oder mehrere Sanktionen vom Jobcenter aufgebrummt bekamen. Rund drei Viertel aller Sanktionen gehen allein darauf zurück, dass Langzeitarbeitslose ohne ausreichende Entschuldigung einen Meldetermin verpasst haben.

Im aktuellen Rechtsstreit hielt das Sozialgericht Gotha das starre Sanktionssystem für verfassungswidrig (Beschluss vom 26. Mai 2015, Az.: S 15 AS 5157/14; JurAgentur-Meldung vom Folgetag). Das vom Staat zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum dürfe so nicht gemindert werden. Das Gericht legte das Verfahren daher dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

Bisher war es so: War die Sanktion einmal verhängt, galt diese für drei Monate. Das Bundesverfassungsgericht ist der Auffassung, dass diese Frist zu starr sei. Bei einer positiven Verhaltensänderung des Hartz 4-Empfängers kann die Frist für die Sanktion auch verkürzt werden.

Der Staat ist verpflicht auch die Würde von Hartz IV Beziehern zu wahren

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts erklärte nun Teile der gesetzlichen Sanktionsvorschriften für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Staat sei wegen des verfassungsrechtlichen Schutzes der Menschenwürde und des Sozialstaatsprinzips zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums eines jeden Einzelnen verpflichtet.

Allerdings dürfe der Gesetzgeber für den Erhalt staatlicher Leistungen von Hartz IV Beziehern eine Mitwirkung verlangen, damit die Hilfebedürftigkeit vermieden oder überwunden werden könne.

Werde die mit dem Jobcenter vereinbarte Mitwirkungspflicht verletzt, dürfe die Behörde dies grundsätzlich auch vorübergehend mit einer Sanktion ahnden. Auf diese Weise soll der Langzeitarbeitslose zu einer Verhaltensänderung gebracht werden und soll sich um eine Integration in den Arbeitsmarkt bemühen, so das laut Bundesverfassungsgericht legitime Ziel des Gesetzgebers.

Jobcenter dürfen weiterhin zu geringwertigen Tätigkeiten zwingen

Jobcenter dürften dabei auch verlangen, dass Hartz-IV-Bezieher einer geringwertigeren Tätigkeit nachgehen, als sie bislang ausgeübt haben, stellten die Verfassungsrichter klar. Dies sei kein Verstoß gegen das Zwangsarbeitsverbot. Auch müsse die Behörde nicht immer auf den Berufswunsch des Langzeitarbeitslosen Rücksicht nehmen.

Doch Sanktionen müssten für die Erreichung der beabsichtigten Ziele, der Integration in den Arbeitsmarkt, zumutbar und verhältnismäßig sein. Dies sei bei dem bislang starren Sanktionssystem aber nicht der Fall, rügte der Erste Senat. Je länger eine Sanktionsregelung in Kraft sei, desto genauere Erkenntnisse müssten vorliegen, „um ihre Eignung, Erforderlichkeit und Angemessenheit zu belegen”.

Keine Studien, die die Wirksamkeit von Sanktionen belegen

Hier habe der Gesetzgeber aber nur pauschal angenommen, dass die Sanktionen wirken. Genaue Studien dazu gebe es aber nicht. Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II um 30 Prozent sei noch wegen der damit angenommenen Abschreckungswirkung plausibel und zu rechtfertigen. Verfassungswidrig sei aber, dass die Vorschriften keine Härtefallregelungen vorsehen. Das Jobcenter müsse auf eine Sanktion auch verzichten können. Gleiches gelte für die starre Dreimonatsfrist einer Sanktion. Es müsse möglich sein, bei einer Verhaltensänderung des Hartz-IV-Beziehers vorzeitig wieder das volle Arbeitslosengeld II zu zahlen.

Für Leistungskürzungen von 60 oder gar 100 Prozent wegen wiederholter Pflichtverstöße gebe es erst recht noch keine genauen Erkenntnisse über die Wirkung dieser Sanktionen. Dabei reiche die hier entstehende Belastung „weit in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein”. „Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen”, betonten die Verfassungsrichter.

Jobcenter müssen Härtefälle berücksichtigen

Bis zu einer erforderlichen Gesetzesänderung gelte daher eine Übergangsregelung. Danach dürfen ab sofort keine Sanktionen von mehr als 30 Prozent verhängt werden. Jobcenter müssten auch Härtefälle berücksichtigen und gegebenenfalls auf eine Sanktion verzichten. Werde die Mitwirkungspflicht nachträglich erfüllt oder sei eine Verhaltensänderung zu erwarten, könne das Jobcenter wieder die volle Leistung gewähren.

Bis zum Inkrafttreten einer Neuregelung bleibt die – für sich genommen verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende – Leistungsminderung in Höhe von 30 % nach § 31a Abs. 1 Satz 1 SGB II mit der Maßgabe anwendbar, dass eine Sanktionierung nicht erfolgen muss, wenn dies im konkreten Einzelfall zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde.

Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsminderung um 60 % sowie zum vollständigen Leistungsentzug (§ 31a Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II) sind bis zu einer Neuregelung mit der Maßgabe anwendbar, dass wegen wiederholter Pflichtverletzung eine Leistungsminderung nicht über 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen darf und von einer Sanktionierung auch hier abgesehen werden kann, wenn dies zu einer außergewöhnlichen Härte führen würde. § 31b Abs. 1 Satz 3 SGB II zur zwingenden dreimonatigen Dauer des Leistungsentzugs ist bis zu einer Neuregelung mit der Einschränkung anzuwenden, dass die Behörde die Leistung wieder erbringen kann, sobald die Mitwirkungspflicht erfüllt wird oder Leistungsberechtigte sich ernsthaft und nachhaltig bereit erklären, ihren Pflichten nachzukommen.

Über die noch strengeren Sanktionsvorschriften für bis zu 25 Jahre alte Hartz-IV-Bezieher hatten die Verfassungsrichter im konkreten Fall nicht zu entscheiden. fle/mwo/fle