Das Bürgergeld-Gesetz führt dazu, dass bis zum 1.7. im SGB II die Erreichbarkeit keine Leistungsvoraussetzung mehr ist. Leistungsbeziehende müssen daher nicht mehr zwingend werktäglich postalisch erreichbar sein und nicht vorhandene Erreichbarkeit führt daher nicht mehr direkt zu einem Leistungsausschluss.
Inhaltsverzeichnis
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Erreichbarkeit für Post
Das bedeutet aber nicht, dass ein Leistungsberechtigter nicht mehr für Schreiben des Jobcenters erreichbar sein muss.
Die Erreichbarkeit is trotzdem weiter im Rahmen der Mitwirkungspflichten notwendig und Fristen zu laufen beginnen.
Die Situation ist wie beim Wohngeld und Kinderzuschlag. Auch dort bestehen Mitwirkungspflichten, aber Erreichbarkeit ist keine Leistungsvoraussetzung.
Aufenthalt im “Nahbereich”
Wenn sich Leistungsbeziehende im Nahbereich (max. 1 1/4 Stunden zu einer Dienststelle) des zuständigen Jobcenters zB. bei Verwandten aufhalten, müssen sie normalerweise die Adresse mitteilen um weiter postalisch erreichbar zu sein.
Dies ist nun aber nicht mehr notwendig.
Da die Erreichbarkeit keine Leistungsvoraussetzung mehr ist, ist ein Verreisen innerhalb des Nahbereichs ohne Angabe eine Adresse auch ohne Anmeldung zulässig und wird nicht auf die 21 Tage Ortsabwesenheit mit Genehmigung angerechnet.
Die Grenze der nun erlaubten Länge der Nichterreichbarkeit ist völlig unklar und dürfte nur noch durch die Pflicht alle Möglichkeiten zu nutzen um die Hilfebedürftigkeit zu beenden begrenzt sein.
Da jährlich auch 3 Wochen Ortsabwesenheit (=Nichterreichbarkeit) die Eingliederung in Arbeit nicht zwingend beeinträchtigen, mehr aber scheinbar immer, könnte man diese Zeit als Frist für die Erreichbarkeit vermuten. Sie ist aber eher individuell zu bestimmen.
Umgang mit Post während Aufenthalt im Nahbereich
Auch wenn die postalische Erreichbarkeit keine Voraussetzung des Leistungsbezugs mehr ist, kann das Jobcenter nach §130 BGB trotzdem davon ausgehen, dass seine Schreiben ankommen.
Fristen beginnen zu laufen und Mitwirkungspflichten bleiben bestehen.
Daher sollte der Leistungsberechtigte dafür sorgen, den Inhalt seiner Post zu kennen und reagieren zu können.
Wer die Sichtung der Post nicht organisiert, geht das Risiko ein, z.B. durch verpasste Termine gegen Pflichten zu verstoßen. Verpasst er Fristen, ist es sein persönliches Problem.
Aber er ist dennoch nicht automatisch von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.
Zusammenfassung
Ein unangekündigter Aufenthalt im Nahbereich führt nicht zum Leistungsausschluss.
Da Fristen und Pflichten auch bei Schreiben an die Heimatadresse entstehen, ist zur Vermeidung von Risiken sinnvoll, jemanden zu haben, der sich um die Post kümmert.
Rechtlicher Hintergrund
Welcher Paragraph gilt aktuell?
Es gibt zwar seit dem 1.1.2011 mit dem nun geltenden §7 Abs4a SGB II eine Rechtsgrundlage für eine eigene Regelung der Ortsabwesenheit. §77 Abs1 SGB II hat die Neufassung von §7 Abs4a SGB II außer Kraft gesetzt.
In §77SGB II stand bis zum 31.12.2022:
Eine solche Rechtsverordnung wurde aber bis zum 31.12.2022 nicht erlassen. Daher war §7 Abs4a SGB II nie in Kraft, sondern es galt die Vorgängerregelung. Diese verweist auf die Erreichbarkeitsanordnung des SGB III zum Alg1.
Diese Fassung verweist nicht nur zur Ortsabwesenheit auf die Erreichbarkeitsanordnung, sondern bestimmt, dass “die übrigen Bestimmungen dieser Anordnung gelten entsprechend”.
Und das sind eben auch Regelungen zur Erreichbarkeit…
Nun wurde durch Artikel1 Nr49 Bürgergeld-Gesetz mit §77 die Regelung gestrichen, die den aktuellen §7 Abs4a SGB II außer Kraft und die gerade beschriebene Altfassung aktiv hielt.
Nach Artikel 13 Abs1 Bürgergeld-Gesetz tritt das gesamte Gesetz zum 1.1.23 in Kraft, außer es sind abweichende Regelungen in Abs2-4 getroffen. In Abs2 taucht Artikel1 Nr49 nicht auf. Nach Artikel1 Nr 44 geht es mit Artikel 2 weiter. Folglich gilt die Streichung zum 1.1.23.
Die Neuregelung der Erreichbarkeit im Bürgergeld ist §7b SGB II. Diese Änderung wird im Bürgergeld-Gesetz unter Artikel 1 Nr.7 (Streichung §7 Abs4a SGB II) und Nr.8 (Einführung §7b SGB II) geführt.
Deren Einführung wird aber mit Artikel 13 auf den 1.7.2023 verschoben.
Dadurch kommt es dazu, dass die Verschiebung auf die bis zum 31.12.2010 geltende Fassung durch die Streichung von §77 SGB II nicht mehr existiert, die Neuregelung §7b SGB II aber noch nicht gilt und aktuell die noch nicht gestrichene Regelung des §7 Abs4a SGB II gilt.
Dies war so wohl nicht beabsichtigt, das wird in der Gesetzesbegründung deutlich.
Es handelt sich scheinbar um einen Konstruktionsfehler. Alle Änderungen, die Streichung des §77 Abs1 und von §7 Abs4a sowie die Einführung von §7b SGB II, hätten gleichzeitig erfolgen müssen.
Ist aber nicht so – daher gilt jetzt §7 Abs4a SGB II.
Erreichbarkeit – nicht mehr gefordert
§7 Abs4a SGB II in der aktuellen Fassung enthält keinerlei Regelungen zur Erreichbarkeit, sondern nur zur Ortsabwesenheit, mit keinem Wort wird im Gesetzestext die (postalische) Erreichbarkeit erwähnt.
In der bis zum 31.12.2022 geltenden Erreichbarkeitsanordnung gab es explizite Regelungen zur Erreichbarkeit und auch im ab 1.7.23 neuen §7b SGB II gibt es klare Regeln zur Erreichbarkeit.
Schon allein aus dem Vorhandensein dieser Regelungen ist erkennbar, dass sie erforderlich sind, sonst wären sie im neuen §7b SGB II nicht aufgenommen worden. Da der aktuelle §7 Abs4a SGB II diese aber nicht enthält, ist diese Leistungsvoraussetzung aktuell nicht existent.
Die Leistungsvoraussetzung “Erreichbarkeit” ist in der gestaffelten Einführung des Bürgergelds befristet bis zum 30.6. “verloren” gegangen. Dass dies der Bundesagentur bewusst ist, wird in der Weisung zu §7 deutlich, denn dort steht nichts Konkretes zur Erreichbarkeit.
Ergebnis ist folglich ganz klar, dass auch jemand der nicht erreichbar ist, weiter Leistungen vom Jobcenter beziehen kann. Aber welche Folgen hat dies für Schreiben, die kommen?
Folgen der fehlenden Voraussetzung der Erreichbarkeit
Verwaltungsakte
Für Verwaltungsakte(Bescheide) ist die Lage sehr einfach. Nach §37 SGB X ist der Bescheid mit Zugang (frühstens 3 Tage nach Versand) bekannt gegeben, die Wirkung setzt ein und die Widerspruchsfrist beginnt zu laufen.
Andere Post vom Jobcenter
Für andere Schreiben wie Einladungen zu Terminen, Stellenangebote usw. gibt es keine explizite Regelung im SGB.
Daher wird hier mit §130 BGB eine Regelung aus dem Privatrecht herangezogen (BSG vom 3.6.2004, B11 AL 71/03 R).
Dieser §130 BGB knüpft die Wirkung der Willenserklärung an deren Zugang.
Für einen Zugang sind aber 2 Faktoren maßgebend:
- Eintritt in den Machtbereich des Empfängers
- Möglichkeit der Kenntnisnahme
Ein Schreiben, dass in den Briefkasten des Empfängers geworfen wird, ist damit eindeutig im Machtbereicht des Empfängers.
Mit dem Einwurf besteht auch die Möglichkeit zur Kenntnisnahme nach “üblichen Bedingungen”. Es wird dabei von einer täglichen Öffnung ausgegangen.
Folglich kann das Jobcenter weiter davon ausgehen, dass seine Schreiben mit Einwurf in den Briefkasten zugegangen sind. Sobald sie zugegangen sind, setzt die Wirkung und somit die Mitwirkungspflichten ein und der Betroffene muss reagieren, wie sonst auch.
Ergebnis
Wer sich im Nahbereich aufhält, aber nicht erreichbar ist, ist nicht von den Leistungen ausgeschlossen. Er muss dies auch nicht anmelden. Schreiben an die Heimatadresse sind dennoch wirksam, Fristen laufen und Mitwirkungspflichten entstehen trotz der Abwesenheit.
Diese Problematik lässt sich aber einfach lösen, indem der Leistungsberechtigte jemanden beauftragt sich um seine Post zu kümmern und diese (zB. per Mail oder Messenger) weiterzuleiten, so dass der Betroffene entsprechend reagieren kann.
Bislang war ein abweichender Aufenthalt im Nahbereich nur mit Anmeldung und Preisgabe der Aufenthaltsadresse möglich. Dann konnte das Jobcenter an diese Adresse die Post senden.
Jetzt hingegen ist keine Anmeldung und keine Bekanntgabe der Adresse mehr nötig.
Ausblick auf die Zeit ab 1.7.2023
Diese Variante stimmt mit der veränderten Erreichbarkeit in §7b SGB II (ab 1.7.) überein. Dann ist Erreichbarkeit zwar wieder verpflichtend, aber diese Form der Erreichbarkeit reicht aus um der Pflicht zu genügen (steht auch so in der Gesetzesbegründung zu §7b SGB II).
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Simon alias “Sozi Simon” ist Sozialarbeiter aus Leidenschaft. Kämpfer für mehr Gerechtigkeit und gegen das Verschweigen/Verweigern von staatlicher Unterstützung. Er ist Mitautor des SGB II & SGB XII Leitfadens von A-Z. Simon ist insbesondere bei Twitter für seine Ratgeber-Tweets bekannt und seit 2022 freier Autor bei Gegen-Hartz.de