Wer fünf Jahre in der Rentenkasse versichert ist und seine volle Erwerbsfähigkeit verliert, hat Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente. Dieser Anspruch verfällt aber, wenn diese Erwerbsminderung entstand, weil einen Unfall hatte, während er alkoholisiert und ohne Führerschein Auto fuhr. So urteile das Sozialgericht Gießen (S 4 R 158/12)
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Ewerbsminderung: Der Anspruch auf eine gesetzliche Rente
Die Erwerbsminderungsrente soll Versicherte auffangen, die vor dem Zeitpunkt der Altersrente keine volle Arbeitsleistung mehr bringen können, ob durch einen Unfall oder eine Krankheit. Diesen zahlt die Rentenversicherung als Ausgleich dafür, sich nicht mehr gänzlich durch Erwerbsarbeit finanzieren zu können, monatlich eine volle oder eine teilweise Rente.
Die Ursache ist nicht entscheidend
Dabei ist erst einmal egal, wie diese Erwerbsminderung entstand, allerdings gibt es Sonderregeln für einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit, denn dann entfällt die fünfjährige Wartezeit.
Ob Sie als Versicherter im eigenen Garten von der Leiter fallen oder schwer am Herzen erkranken, macht bei der Rente keinen Unterschied: Wichtig ist nur, ob Sie weniger als drei Stunden (volle Erwerbsminderung) oder weniger als sechs Stunden (teilweise Erwerbsminderung) pro Tag arbeiten können.
Keine Rente bei Vorsatz oder strafbaren Handlungen
In besonderen Fällen kann die Rentenversicherung es jedoch ablehnen, eine Rente auszuzahlen, obwohl jemand erstens versichert ist und zweitens eine Erwerbsminderung vorliegt, nämlich dann, wenn der Betroffene den Zustand durch Vorsatz und / oder eine strafbare Handlung selbst verursacht hat. Genau darum ging es vor dem Sozialgericht Gießen.
Nerven nach Autounfall beschädigt
Der Betroffene arbeitete als Koch. Er fuhr nachts mit seinem Auto in einen Erdhügel, dabei verletzte er sich, er erlitt mehrere Frakturen und der Unfall schädigte nachhaltig seine Nerven in einem Arm. Seitdem kann er nicht mehr als Koch arbeiten und auch keine anderen Erwerbstätigkeiten ausüben. Der Versicherte beantragte eine Rente wegen Erwerbsminderung, doch die Rentenkasse lehnte diesen ab.
Der Mann klagte vor dem Sozialgericht, und dieses wies seine Klage ab. Zum Zeitpunkt des Unfalls hatte der Kläger keinen Führerschein gehabt und zudem 1,39 Promille im Blut. Das Amtsgericht Groß-Gerau hatte ihn wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten auf Bewährung verurteilt.
Wie begründet die Rentenkasse die Ablehnung
Die Rentenkasse verwies darauf, dass eine Rente versagt werden kann, wenn der Betroffene die “für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung bei einer Handlung zugezogen hat, die nach strafgerichtlichen Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist.” Dies sei hier ausdrücklich der Fall.
Was setzt der Anwalt dem entgegen?
Der Anwalt der Klägers sagte hingegen, die vorsätzlich begangene Fahrt ohne Führerschein habe nicht den Unfall verursacht. Die Trunkenheit im Straßenverkehr sei nur fahrlässig gewesen, und er habe früher bereits einen Führerschein besessen und verfüge über die theoretischen und praktischen Kenntnisse, um Auto zu fahren.
Das Gericht sagt, die Fahrt ist Ursache des Unfalls
Das Gericht ließ sich nicht von den Argumenten des Anwalts überzeugen. Denn der Betroffene hätte durch den Alkohol offensichtlich nicht mehr über die notwendigen Kenntnisse für das Autofahren verfügt. Es wäre zu diesem Unfall nicht gekommen, wenn er nicht gefahren wäre.
Das Fahren ohne Fahrerlaubnis lasse sich hier auch nicht trennen von der fahrlässigen Trunkenheit im Straßenverkehr.
Kein Ermessensfehler der Rentenversicherung
Das Gericht führte aus, dass die Rentenversicherung keinen Ermessensfehler begangen hätte. Es sei sozialethisch kaum zu tolerieren, wenn schwere Strafverstöße auch noch durch Leistungen der Sozialversicherung belohnt würden. Die Rentenversicherung habe dem Rechnung getragen.
Wie ist die Rechtslage?
Die Rechtslage ist in diesem Fall eindeutig. So steht im Paragrafen 4 des Rentenrechts: “Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Altersrenten für schwerbehinderte Menschen oder große Witwenrenten oder große Witwerrenten können ganz oder teilweise versagt werden, wenn die Berechtigten sich die für die Rentenleistung erforderliche gesundheitliche Beeinträchtigung bei einer Handlung zugezogen haben, die nach strafgerichtlichem Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist.
Dies gilt auch, wenn aus einem in der Person der Berechtigten liegenden Grunde ein strafgerichtliches Urteil nicht ergeht. Zuwiderhandlungen gegen Bergverordnungen oder bergbehördliche Anordnungen gelten nicht als Vergehen im Sinne des Satzes 1.”
Eine Freiheitsstrafe von fünf Monaten auf Bewährung ist kein “Kavaliersdelikt”. Damit blieb dem Anwalt nur die Strategie, die Straftat nicht als Ursache des Unfalls darzustellen und die fahrlässige Trunkenheit im Verkehr vom vorsätzlichen Fahren ohne Führerschein zu trennen.
Das hielt das Gericht jedoch nicht für tragfähig, und zwar aus gutem Grund. Denn die Argumentation des Anwalts war schwach, da die Begründung für die Bewährungsstrafe die Tateinheit von beiden Delikten betont. Der Anwalt hoffte offensichtlich, dass die fahrlässige Trunkenheit durchginge, denn im zitierten Paragrafen geht es um Vorsatz und gerade nicht um Fahrlässigkeit.
Was folgt aus dem Urteil?
Wenn die Rentenkasse die Zahlung einer Rente wegen eines Verbrechens oder vorsätzlichen Vergehens ablehnt, dann handelt sie in eigenem Ermessen. Ermessen bedeutet nicht Willkür, sondern das Wählen unter verschiedenen Möglichkeiten innerhalb eines gesetzten Rahmens.
Was bedeutet das für Sie? Müssen Sie befürchten, dass die Rentenkasse Ihnen die Erwerbsminderungsrente verweigert, weil Ihnen eine morsche Leiterstufe durchbricht, Sie deshalb stürzen und danach nicht mehr voll arbeiten können?
Nein, denn höchstens liegt Fahrlässigkeit vor, weil Sie den Unfall durch größere Sorgfalt hätten vermeiden können. Sie sind aber nicht absichtlich, also mit Vorsatz, auf eine morsche Stufe getreten.
Wenn Sie erwerbsgemindert werden, weil Sie in strafbare Handlungen verstrickt sind, dann bewegen Sie sich auf dünnem Eis. und das ausdrücklich auch dann, wenn kein Urteil ergeht.
Nehmen wir zum Beispiel an, Sie ziehen sich die Erwerbsminderung zu wegen einer Schlägerei, in der nicht nur ihr Gegner, sondern auch Sie selbst heftig ausgeteilt haben, und das Gericht beide in gleichem Ausmaß als verantwortlich ansieht.
Wenn Sie also nicht strafrechtlich verurteilt werden, die Richter Sie aber auch nicht als Opfer ansehen, dann hätte die Versicherung das Recht, Ihnen die Rente zu verwehren.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.