Bürgergeld: Schwere Probleme mit dem Berliner Sozialticket

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Vor zwei Jahren wurde der Berlin-Pass abgeschafft. Dabei war der Pass für viele Berliner mit geringem Einkommen bzw. Bürgergeld ein verlässliches Hilfsmittel.

„Alles war so einfach damit, man hatte einen Nachweis für das Sozialticket und kam günstig ins Schwimmbad, Kino oder in Volkshochschulkurse. Jetzt ist alles unsicher und kompliziert“, sagt Sebastian Bayer, selbst Bürgergeld-Bezieher und engagiert in der Erwerbslosenhilfe.

Abgeschafft: Berlin-Pass

Der Berlin-Pass war 2009 eingeführt worden, um Menschen, die Sozialleistungen wie Sozialhilfe oder Bürgergeld beziehen, den vergünstigten Zugang zu Kultur- und Bildungseinrichtungen in Berlin zu ermöglichen.

Dazu gehörten neben verbilligten Eintritten für Theater, Kinos und Volkshochschulen auch ein ermäßigtes Sozialticket für den öffentlichen Nahverkehr, das zunächst 27 Euro kostete und später für die Zeit der Corona-Pandemie auf 9 Euro reduziert wurde.

Die meisten Geschichten enden nicht einfach, nachdem einmal ausführlich darüber berichtet wurde.  Seit der Abschaffung des Berlin-Passes zum 1. Januar 2023 sind die Probleme für die Betroffenen nicht verschwunden, sondern haben sich eher vervielfacht.

„Wir fühlen uns von der Politik im Stich gelassen“, erklärt Bayer. „Der alte Pass war unbürokratisch, das System klar. Jetzt ist alles nur noch ein Chaos – und es trifft vor allem die Ärmsten.“

Wie kam es zur Abschaffung des Berlin-Passes?

Offiziell wurden zwei Hauptgründe genannt: Entlastung der überlasteten Bürgerämter und eine zügige Digitalisierung. Durch den neuen „Berechtigungsausweis“ sollten die Betroffenen automatisch Post von ihrer zuständigen Behörde erhalten (Jobcenter, Sozialamt, Wohnungsamt oder Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten).

Darin sollte sich ein QR-Code befinden, mit dem man eine spezielle BVG-Kundenkarte namens „VBB-Kundenkarte Berlin S“ beantragen kann, um das ermäßigte Sozialticket nutzen zu dürfen.

In der Praxis scheiterte das Projekt jedoch an vielen Stellen: Die Behörden verschickten die Ausweise teilweise verspätet, es gab technische Fehler mit dem QR-Code – und viele Menschen verstanden die komplizierten Abläufe schlicht nicht. Was als Erleichterung gedacht war, entwickelte sich für Tausende zu einem bürokratischen Hindernislauf.

Warum endeten so viele Betroffene beim „erhöhten Beförderungsentgelt“?

Als im Oktober 2023 eine bis dahin geltende „Übergangsregelung“ auslief, griffen die Verkehrsbetriebe (BVG) wieder konsequent durch: Wer kein korrektes Sozialticket samt gültiger VBB-Kundenkarte S vorweisen konnte, sollte ein „erhöhtes Beförderungsentgelt“ (EBE) in Höhe von 60 Euro zahlen.

Dummerweise lag das Problem meist nicht bei den Betroffenen selbst, sondern an der fehlenden oder verspäteten Zusendung ihrer Berechtigungsausweise. Zahlreiche Berliner erhielten Knöllchen, obwohl sie Anspruch auf das vergünstigte Sozialticket hatten. Wir berichteten.

Aus der Frustration dieser Betroffenen wurde letztlich die „Bewegung 9-Euro-Ticket“ geboren. Tim* erinnert sich an die zahlreichen Beschwerde-Aktionen: „Wir gingen in den Sozialausschuss des Abgeordnetenhauses und verteilten Info-Zettel vor den BVG-Kundencentern, wo sich lange Schlangen gebildet hatten.“ Immer mehr Menschen erkannten, dass diese Misere kein Einzelfall war – und forderten Unterstützung.

Was unternimmt die Politik gegen die Kritik?

Nach anhaltendem Druck ruderte die Politik zurück: Im Januar 2024 setzte sie die „Übergangsregelung“ wieder in Kraft.

Das bedeutet, dass vorerst immer noch der bloße Nachweis über den Erhalt von Sozialleistungen (zum Beispiel der Leistungsbescheid) ausreicht, um das Sozialticket nutzen zu dürfen. Dies soll nach aktuellem Stand bis Ende Juni 2025 gelten.

Allerdings, so kritisieren Vertreter der „Bewegung 9-Euro-Ticket“, handelt es sich dabei nur um eine behelfsmäßige Lösung. Für viele ist es entwürdigend, in Bus oder Bahn vor versammelter Mannschaft ein DIN-A-4-Blatt hochhalten zu müssen.

„Gerade in Zeiten, in denen Bürgergeld-Beziehende oft öffentlich angefeindet werden, ist das eine Demütigung“, sagen sie. Obendrein wird darauf hingewiesen, dass dieses Vorgehen datenschutzrechtlich problematisch sein könnte, weil damit alle Mitfahrenden sehen, welche Transferleistungen eine Person bezieht.

Wie hoch ist der finanzielle Schaden für Betroffene?

Inzwischen haben etliche Menschen Mahnungen von Inkassounternehmen erhalten, weil sie die EBE nicht bezahlt haben. Christiane* und Anna* berichten von gleich mehreren unberechtigten „Schwarzfahrer-Knöllchen“, obwohl sie eigentlich sozialversichert und anspruchsberechtigt waren.

Laut BVG wurden allein 2023 rund 21.600 solcher erhöhten Beförderungsentgelte in Verbindung mit dem Sozialticket ausgestellt, 2024 waren es bereits weitere 5.700. Immerhin kann man innerhalb einer Woche das EBE reduzieren, wenn man sein Sozialticket nachträglich vorzeigt – dann fallen „nur noch“ 7 Euro Verwaltungsgebühr an.

Doch dieses Verfahren setzt voraus, dass man ein gültiges Sozialticket rechtzeitig beschaffen oder die Details des komplizierten Systems verstanden hat. „Bei vielen klappt das nicht“, sagt Tim.

„Manche wissen gar nicht, dass man noch im Nachhinein etwas einreichen kann, oder schaffen es in der kurzen Frist nicht, an alle erforderlichen Unterlagen zu kommen.“

Welche Auswirkungen hat der Wegfall des Berlin-Passes für Kultur und Bildung?

Neben der Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs berechtigte der Berlin-Pass auch zu günstigen Eintritten in Theater, Kinos, Schwimmbäder oder Volkshochschulen.

Zwar verspricht die Berliner Sozialverwaltung, dass berechtigte Personen auch weiterhin von Vergünstigungen profitieren könnten, faktisch ist dies aber oft nicht mehr eindeutig geregelt. Anna* musste kürzlich erfahren, dass ihr Leistungsbescheid nicht als Nachweis für eine ermäßigte VHS-Veranstaltung akzeptiert wurde.

„In vielen Einrichtungen ist immer noch nicht klar, wie nun kontrolliert wird. Der Berlin-Pass war etwas Offizielles, ein aufklappbares Kärtchen, das leicht zu erkennen war. Jetzt müssen die Institutionen jedes Mal aufs Neue prüfen, ob jemand wirklich berechtigt ist oder nicht“, kritisiert Tim.

Stellt das neue System eine dauerhafte Lösung dar?

Wie es mit dem „Berechtigungsausweis“ weitergeht, ist ungewiss. Die bisherige Übergangsregelung wurde verlängert, eine digitale App-Lösung scheiterte bislang an Datenschutzbestimmungen.

Zwar arbeitet die Sozialverwaltung an einer neuen Alternative, doch wie diese konkret aussehen soll, ist unklar. Viele Betroffene befürchten, dass die derzeitige Provisorien-Regelung zum Dauerzustand werden könnte.

Aus Sicht der der Betroffenen ist eine langfristige, datensichere und bürokratiearme Lösung dringend nötig.

„Wir brauchen eine verlässliche und sozial gerechte Regelung, die nicht stigmatisiert“, fordert Annette Schmidt*. Dies sei ein Gebot der Fairness – und letztlich im Interesse der Stadtgesellschaft, um allen Berlinern die kulturelle und soziale Teilhabe zu ermöglichen.

Kommt mit der Preissteigerung beim Sozialticket ein doppelter Rückschlag?

Besonders großer Unmut herrscht in der „Bewegung 9-Euro-Ticket“ darüber, dass das Sozialticket ab April 2025 von 9 Euro auf 19 Euro steigen soll – ein Anstieg um ganze 111 Prozent. Die Verteuerung wird von der Verwaltung als Kompromiss dargestellt; ursprünglich waren sogar 29 Euro im Gespräch.

SPD-Sozialpolitiker Lars Düsterhöft argumentiert, dass die Absenkung auf 9 Euro eine Krisenmaßnahme in Zeiten der Corona-Pandemie gewesen sei. Diese Krise sei nun vorbei.

Für die Betroffenen  ist diese Sichtweise ein Schlag ins Gesicht. Denn viele haben es immer noch schwer, im teuren Berlin über die Runden zu kommen.

Wer auf Bürgergeld angewiesen ist, spüre die Inflation und steigende Lebenshaltungskosten besonders stark. Für sie bedeuten jede Preiserhöhung und jede bürokratische Hürde ein weiteres Abgleiten in soziale Isolation, so Bayer.

Welche Forderungen stehen jetzt im Raum?

  1. Rückkehr zum Berlin-Pass oder eine vergleichbar einfache Lösung
    Viele Betroffene wünschen sich ein klares Dokument, das als Nachweis für alle Sozialvergünstigungen akzeptiert wird – in öffentlichen Einrichtungen, bei Verkehrsbetrieben und in kulturellen Institutionen.
  2. Verbindliche und unbürokratische Verfahren
    Die Ausstellung von Berechtigungsausweisen darf nicht an technischen Schwierigkeiten oder mangelnder Koordination der Behörden scheitern. Insbesondere sollte niemand „automatisch“ Knöllchen bekommen, wenn Behörden selbst Fehler machen.
  3. Faire und leistbare Preise
    Der drastische Anstieg von 9 auf 19 Euro wird als unsozial empfunden. Die Forderung nach einem dauerhaft bezahlbaren Sozialticket ist deshalb eine der Hauptanliegen der „Bewegung 9-Euro-Ticket“.
  4. Anerkennung der Bedeutung von Kultur und Bildung
    Wer sich Kulturangebote oder Weiterbildungen an Volkshochschulen nicht leisten kann, gerät gesellschaftlich ins Abseits. Ein Sozialpass muss daher mehr sein als nur ein Fahrschein-Rabatt.

Was bleibt als Fazit?

Der abgeschaffte Berlin-Pass und sein kompliziertes Nachfolgesystem zeigt, wie schnell Reformen in bürokratischen Problemen versanden können. Anstelle der erhofften Entlastung der Verwaltungen und einer digitalen „Schnelllösung“ entstand eine Situation, in der gerade diejenigen leiden, die besonders auf Unterstützung angewiesen sind.

Zwar gibt es inzwischen kleine Schritte zurück in Richtung Kulanz – etwa die verlängerte Übergangsregelung und die Aussicht, dass sich die Sozialverwaltung nach einer besseren Lösung umsieht.

Doch ob und wann der Berliner Senat tatsächlich eine verlässliche, stigmatisierungsfreie und datenschutzkonforme Variante umsetzt, ist offen.