Bürgergeld in Deutschland steht vor einer möglichen Neuausrichtung. Rund 5,4 Millionen Menschen erhalten aktuell diese Leistung. Sie deckt den Lebensunterhalt und soll eine Perspektive auf Beschäftigung bieten. Doch viele Betroffene profitieren nicht ausreichend von Maßnahmen, die gezielt zum Arbeitsmarkt führen.
In einer Studie der Bertelsmann-Stiftung fordern Experten deshalb eine Reform, die Verwaltungsabläufe verschlankt und das Verhältnis von Fördern und Fordern neu justiert.
Inhaltsverzeichnis
Zusammenfassung der Ausgangslage
Knapp 1,9 Millionen Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger sind momentan ohne Job. Weitere 2,7 Millionen stehen aus verschiedenen Gründen nicht für den Arbeitsmarkt zur Verfügung. Das betrifft Personen, die eine Ausbildung machen, Angehörige pflegen oder aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeitsfähig sind.
Außerdem gibt es rund 830.000 sogenannte Aufstockerinnen und Aufstocker, die zwar arbeiten, aber dennoch auf ergänzende staatliche Leistungen angewiesen sind. Nach aktuellen Berechnungen belaufen sich alle Ausgaben für diese Grundsicherung auf etwa 52 Milliarden Euro pro Jahr. Davon fließen rund 29 Milliarden Euro direkt an Leistungsberechtigte.
Jobcenter übernehmen eine wichtige Rolle
Die Jobcenter übernehmen die wichtigste Rolle bei der Betreuung. Sie sollen den Lebensunterhalt der Empfängerinnen und Empfänger absichern und gleichzeitig auf eine Rückkehr in reguläre Arbeit hinarbeiten. Dafür erhalten sie Bundesmittel in Höhe von insgesamt 10,7 Milliarden Euro für die Betreuung von Leistungsbeziehenden (Stand 2024).
Aktuelle Zahlen zeigen jedoch, dass ein erheblicher Teil dieses Budgets für die Verwaltung verwendet bzw. verschwendet wird. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Verwaltungsaufwendungen um fast 40 Prozent erhöht und liegen bei 6,5 Milliarden Euro. Die Mittel für Arbeitsförderung stagnieren bei rund 3,8 Milliarden Euro.
Einige Einrichtungen schichten bis zu 70 Prozent des Geldes in die Organisation ihrer Abläufe um, anstatt es für aktive Vermittlungsangebote einzusetzen.
Grund für die geringe Integrationsquote
Diese Entwicklung hemmt das Ziel, Menschen rasch in Erwerbstätigkeit zu bringen. Denn weniger Fördergeld bedeutet weniger Kurse, weniger Qualifizierungen und weniger individuelle Betreuung. Laut Aussagen von Arbeitsmarktexpertinnen und -experten der Bertelsmann-Stiftung ist das eine wesentliche Ursache für die geringe Integrationsquote.
Häufig fehlen passgenaue Hilfen für Betroffene, die mehrere Vermittlungshemmnisse haben. Wenn Weiterbildungen oder Coachings aus Kostengründen entfallen, bleiben viele Menschen länger arbeitslos. Das erhöht die Gesamtausgaben, weil weiterhin Bürgergeld gezahlt wird, ohne die nachhaltige Rückkehr in den Job zu unterstützen.
Hohe Ausgaben, geringe Wirkung?
Das Problem liegt in den ineffizienten Strukturen. Nach Einschätzung verschiedener Fachkreise wird das Budget eher an Fallzahlen orientiert verteilt als an konkreten Zielwerten für Arbeitsmarktintegration. Es fehlt eine verbindliche Steuerung, die den Erfolg der Jobcenter an messbaren Kennzahlen ausrichtet.
So gibt es in vielen Regionen kein konsequentes Controlling, das darlegt, wie viele Personen durch bestimmte Förderprogramme einen Arbeitsplatz gefunden haben. Diese Intransparenz erschwert eine evidenzbasierte Analyse, welche Maßnahmen funktionieren und wo Gelder wirkungsvoller eingesetzt werden könnten.
Beispiel für Integration
Ein Beispiel verdeutlicht das finanzielle Potenzial gelungener Integration: Wenn allein 230.000 Menschen ohne nennenswerte Vermittlungshemmnisse in Vollzeitjobs zu Mindestlohnbedingungen einsteigen, könnten jährlich geschätzt 3,5 Milliarden Euro an Transferzahlungen eingespart werden.
Gleichzeitig würde die Sozialversicherung um etwa 1,3 Milliarden Euro entlastet, und die Einkommensteuer-Einnahmen könnten um rund 350 Millionen Euro steigen. Solche Zahlen signalisieren, welchen gesellschaftlichen Nutzen mehr Investitionen in gezieltes Training, Beratung und Qualifizierung hätten.
Anreize durch gezieltes „Fördern und Fordern“
Die Experten der Bertelsmann-Stiftung raten zu einem verstärkten Fokus auf sogenannte Aktivierungsmaßnahmen. Damit sind Programme gemeint, die individuelle Hindernisse bei der Jobsuche abbauen. Das umfasst Coaching, persönliche Entwicklungspläne und abschlussorientierte Weiterbildung.
Vor allem junge Menschen ohne Berufsausbildung profitieren von schulischen Nachqualifizierungen oder Förderlehrgängen, die auf Ausbildungsabschlüsse vorbereiten. Damit lässt sich früh verhindern, dass sich eine Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt.
Wer in einer Notlage steckt, benötigt teils mehr Begleitung, damit motivierende Effekte spürbar werden. Studien zeigen, dass eine enge Betreuung durch Fallmanagerinnen und Fallmanager in Jobcentern helfen kann, Arbeitssuchende früher in Praktika oder befristete Jobs zu vermitteln.
Einzelgespräche decken dabei persönliche Probleme auf und münden in gezielte Hilfsangebote, die wieder eine Perspektive schaffen. Diese Maßnahmen kosten Geld, sparen aber langfristig Mittel, weil Arbeitslosigkeit kürzer ausfällt und seltener zurückkehrt.
Faire Sanktionsregeln helfen
In der Studie wird darauf hingewiesen, dass bei aller Kritik an den Jobcentern, die Handlungsfähigkeit erhalten bleiben muss. Entgegen der Überzeugung von gegen-hartz sollten Sanktionen ein wichtiges Mittel bleiben, um vermeidbare Kosten zu senken und Anreize für die Jobvermittlung zu schaffen.
Die Verfasser der Studie verweisen aber auch darauf, dass vor allem für jüngere Betroffene eine abschlussorientierte Qualifizierung und passgenaue Weiterbildung der sinnvollste Weg für eine erfolgreiche Jobvermittlung sind.
Warum sich Mehrarbeit häufig nicht lohnt
Ein weiterer Hemmschuh für die Eingliederung in den Arbeitsmarkt ist das rasche Abschmelzen staatlicher Unterstützung. Wer zusätzlich zu einem niedrigen Lohn Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag bezieht, verliert durch jeden Euro Arbeitsentgelt einen Teil dieser Leistungen.
In der Praxis bleibt Betroffenen oft nur ein geringer finanzieller Vorteil, wenn sie ihre Arbeitszeit erhöhen. Dieser Effekt dämpft die Motivation, mehr Stunden zu arbeiten oder einen angemessener bezahlten Job zu suchen.
Experten fordern Bündelung von Leistungen
Die Autoren der Bertelsmann-Studie fordern deshalb eine Bündelung der Leistungen. Bürgergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag könnten zu einer einzigen Transferleistung verschmelzen. Dann würden kleine Lohnerhöhungen nicht sofort den gesamten Leistungsanspruch mindern. Stattdessen wäre mehr Netto vom Brutto spürbar.
Für Sie als Betroffene oder Betroffener könnte das bedeuten, dass sich jeder Schritt hin zu einer Vollzeitstelle konkret lohnt. Dieser Effekt würde sich laut Modellrechnungen auch auf die gesamte Volkswirtschaft positiv auswirken.
Reformbedarf in der Verwaltung
Der Ruf nach mehr Strukturreformen kommt nicht nur von Wohlfahrtsverbänden, sondern auch von Kommunen. Viele Jobcenter kämpfen mit aufwendigen Prozessen, digitaler Rückständigkeit und mangelnder Vernetzung zu anderen Behörden. Teilweise werden Dokumente immer noch in Papierakten abgelegt, was schnelle Entscheidungen verzögert.
Eine durchgängig digitale Fallbearbeitung könnte Ressourcen sparen und Ihnen als Betroffene oder Betroffener Wartezeiten ersparen. Wo heute Anträge in unklaren Verfahren stecken bleiben, könnte eine übersichtliche Plattform rasch Aufschluss geben, ob Unterlagen fehlen oder Termine anstehen.
Mehr Kapazität – Bessere Betreuungsschlüssel
Effizientere Abläufe bedeuten, dass Fachkräfte weniger Zeit für Bürokratie benötigen und mehr Raum für den Kontakt zu Arbeitssuchenden haben. Dadurch lassen sich Betreuungsschlüssel verbessern, und es bleibt Kapazität für individuelle Beratung.
Internationale Vergleiche, etwa mit Dänemark oder den Niederlanden, deuten darauf hin, dass eine schlanke Verwaltung mehr Möglichkeiten für aufsuchende Sozialarbeit und gezielte Trainings schafft. Je reibungsloser das System, desto eher können Hilfsangebote frühzeitig greifen.
Ein ganzheitlicher Reform-Ansatz
Viele Beobachter kritisieren das bisherige Drehen an einzelnen Stellschrauben. Mal werden Sanktionsregelungen gelockert, mal wird das Schonvermögen für Empfänger erhöht. Diese kleinschrittigen Anpassungen lösen jedoch keine Grundprobleme wie niedrige Erwerbsanreize oder fehlende Transparenz.
Stattdessen braucht es eine Strategie, in der sämtliche Komponenten ineinandergreifen: kluge Förderung, verbindliches Fordern, klare digitale Prozesse und gerechte Anreize für mehr Stundenumfang.
Mehr Sicherheit für Betroffene
Eine solche Reform würde Leistungsbeziehern eine größere Sicherheit bieten. Sie hätten einen nachvollziehbaren Stufenplan für Qualifizierung, der mit den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt verknüpft ist.
Ebenso wüssten Sie, dass mehr Aufwand oder zusätzliche Schulungen unmittelbar zu einem höheren Einkommen führen können, weil soziale Leistungen nicht abrupt wegfallen. Auf lange Sicht profitieren auch die Kommunen, wenn sich ihre Ausgaben für Arbeitslosigkeit verringern und zusätzliche Steuereinnahmen generiert werden.
Entscheidend bleibt ein möglichst nahtloser Übergang in den Arbeitsmarkt. Wer dort wieder Tritt fasst, zahlt Steuern, stärkt die Rentenkassen und fühlt sich tendenziell gesellschaftlich eingebundener.