Erkrankte Bürgergeld-Bezieher sollen schnell aus dem System verschwinden

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Die Neugestaltung der Grundsicherung – heute noch als Bürgergeld bezeichnet – soll verschärft werden. Die derzeitigen Pläne der künftigen Koaltion aus SPD und Union vermitteln den Eindruck, dass selbst chronisch Kranke mithilfe von Gesundheitsförderung und Reha-Maßnahmen möglichst schnell wieder arbeitsfähig gemacht werden sollen – unabhängig von der tatsächlichen Lebenssituation der Betroffenen, kritisiert der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt, nachdem er die Sondierungspapiere gelesen hat.

Qualifizierung und Weiterbildung sollen kaum noch stattfinden

Ursprünglich galt im Bürgergeld die Devise, dass eine fundierte Qualifizierung der Schlüssel zum Erfolg auf dem Arbeitsmarkt ist. Gerade die Ampelparteien hatten zu Beginn ihrer Regierungszeit viel Hoffnung in Weiterbildungsinitiativen gesetzt.

Doch in den vergangenen Monaten wurde deutlich, dass viele dieser Maßnahmen nicht die gewünschten Effekte erzielen. Nicht selten bleiben Betroffene in Kursen, die für ihre berufliche Zukunft wenig Mehrwert bringen.

Der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt hegt Zweifel, ob die künftige Bundesregierung ernsthaft an einer Qualitätsoffensive interessiert ist oder nur darauf abzielt, den Nachweis von Aktivierungsmaßnahmen zu erbringen, ohne dass diese nachhaltig wirken.

Mit Blick auf eine mögliche neue Koalitionsbildung im Bund oder in Ländern stellt sich daher die Frage, ob unnötige Kurse abgebaut oder die Gelder gleich anderswo gekürzt werden, damit der Staat Kosten reduzieren kann.

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Wie soll die Förderung für Kranke demnächst aussehen?

Insbesondere Menschen, die gesundheitlich beeinträchtigt sind, blicken mit gemischten Gefühlen auf die anvisierten Reformen. Der Plan, Reha-Angebote auszubauen und die Gesundheitsförderung zu intensivieren, klingt zunächst positiv.

Viele Betroffene wünschen sich tatsächlich eine professionelle Unterstützung der Jobcenter, um ihre Gesundheit wiederherzustellen oder zumindest zu stabilisieren.

Anhalt warnt jedoch davor, dass “diese Maßnahmen vor allem das Ziel haben könnten, den Weg in eine möglichst rasche Arbeitsaufnahme zu ebnen – selbst dann, wenn eine vollständige Genesung noch nicht in Sicht ist.”

Die Frage sei, wie realistisch es überhaupt ist, chronisch Kranke mit ein paar gezielten Eingriffen zu rehabilitieren und in den Arbeitsmarkt zu integrieren, und welche Folgen es für den Einzelnen hat, wenn der Genesungsprozess unter politischem und ökonomischem Druck steht.

Steht der Mensch noch im Mittelpunkt?

Wer krankheitsbedingt auf das Bürgergeld angewiesen ist, wird selten freiwillig in dieser Position verharren wollen. Die meisten Betroffenen wünschen sich eine nachhaltige Besserung ihrer Gesundheit, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Eine solche Verbesserung lässt sich jedoch nicht erzwingen. Dass die künftige Koalition zunehmend auf Arbeitsfähigkeit legt, “weckt bei vielen Menschen Ängste. Sie fürchten, dass medizinische Maßnahmen zum Mittel einer möglichst schnellen Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt werden und weniger auf die tatsächlichen gesundheitlichen Bedürfnisse abgestimmt sind”, sagt Anhalt. “Es ist auch eine ethische Frage, wie weit ein Staat gehen darf, um die Arbeitslosenquote zu senken”, so der Experte.

Vorwurf der Unmenschlichkeit

Die Wortwahl mag drastisch klingen, doch der Unmut speist sich aus konkreten Erfahrungen. Wenn Jobcenter-Mitarbeitende Krankheitsberichte anzweifeln, Untersuchungen fordern oder die Verweigerung einer möglichen Therapie als Mitwirkungsverweigerung auslegen, geraten Betroffene schnell in die Defensive.

“Es entsteht der Eindruck, dass das System an einem Punkt angekommen ist, an dem es nicht mehr um das Wohl des Einzelnen, sondern vorrangig um statistische Effekte und Kosteneinsparungen geht. Für Menschen, die schweren gesundheitlichen Einschränkungen ausgesetzt sind, ist diese Entwicklung besonders belastend. Statt verlässlicher Unterstützung und einer respektvollen Begleitung durch den Genesungsprozess droht das Gefühl, auf dem Arbeitsmarkt möglichst schnell „funktionieren“ zu müssen.”

Wohin entwickelt sich das Bürgergeld?

Die Zukunft des Bürgergeldes bleibt offen. Es ist denkbar, dass eine neue Regierung oder eine veränderte Mehrheitskonstellation im Bundestag Anpassungen anstrebt. Gestrichene oder verkürzte Weiterbildungsmaßnahmen könnten zwar Kosten reduzieren, blieben aber hinter dem ursprünglichen Ansatz einer nachhaltigen Qualifizierung zurück.

Ob und wie eine neue Regierung oder Koalition die Balance zwischen sinnvoller Förderung und Rücksichtnahme auf gesundheitliche Grenzen findet, wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen. “Optimistisch können wir derzeit nicht sein”, kritisiert der Sozialrechtsexperte.