Der Brief kam überraschend: Nach fast vier Jahrzehnten Rentenbezug fordert das Finanzamt eine 99‑jährige Frau auf, innerhalb von vier Wochen ihre Einkommensteuererklärung einzureichen.
Für den Sohn der Seniorin wirkt das wie Bürokratie ohne Herz – doch juristisch ist der Schritt nachvollziehbar. Maßgeblich ist Paragraf 149 AO, der alle steuerpflichtigen Bürgerinnen und Bürger zur wahrheitsgemäßen Deklaration ihrer Einkünfte verpflichtet, wenn das Finanzamt dazu auffordert.
Eine Altersgrenze, ab der die Pflicht endet, existiert nicht. Wer zwei Renten – hier Alters‑ und Witwenrente – bezieht, erreicht schneller als gedacht die steuerliche Freigrenze und gerät damit ins Raster der Kontrollmitteilungen.
Dr. Utz Anhalt über den Fall
Welche Daten liegen den Finanzämtern wirklich vor?
Seit 2005 übermittelt die Deutsche Rentenversicherung (DRV) jährlich bis Ende Februar die Bruttobeträge sämtlicher ausgezahlten Renten an die Finanzverwaltung. 2025 betraf das knapp 22 Millionen Datensätze.
Jeder Posten wird elektronisch einer Steuer‑ID zugeordnet und automatisch in die elektronische Steuerakte eingespeist. Ältere Menschen, die nie eine Erklärung abgeben mussten, rutschen spätestens dann ins Visier, wenn die Summen ihre persönlichen Freibeträge dauerhaft übersteigen.
Die Übermittlung erspart zwar das Ausfüllen der „Anlage R“, macht aber auch Versäumnisse sichtbar, wenn jahrzehntelang keine Steuererklärung abgegeben wurde.
Warum reichen Altersrente und Witwenrente gemeinsam oft über den Grundfreibetrag?
Der Grundfreibetrag soll das Existenzminimum sichern: 11 784 Euro für Ledige im Jahr 2024, 12 096 Euro ab 2025.
Für Ehepaare gilt jeweils das Doppelte. Liegt die Summe der Jahresbruttorenten darüber, entsteht prinzipiell eine Steuerpflicht. Zwei Rentenaddieren sich schneller als gedacht – erst recht, wenn die Witwenrente durch frühere Einkommen des verstorbenen Partners vergleichsweise hoch ausfällt.
Was ändert sich, wenn Rentnerinnen und Rentner mehrere Jahrzehnte Leistungen beziehen?
Bei Renten, die lange laufen, wirken zwei Mechanismen: Erstens steigt der steuerpflichtige Anteil für Neurentner seit 2005 jährlich; für Zugänge ab 2058 wird die Rente zu 100 Prozent steuerpflichtig. Zweitens sind Rentenerhöhungen – anders als der ursprüngliche Rentenfreibetrag – seit jeher voll zu versteuern.
Wer 20 oder 30 Erhöhungen kumuliert, verschiebt sein steuerpflichtiges Einkommen schrittweise nach oben, bis der Freibetrag überschritten ist.
Deshalb kann eine 99‑Jährige, die 1986 in Rente ging, Jahrzehnte lang unauffällig bleiben, dann aber plötzlich die Schwelle überschreiten und vier Jahre rückwirkend zur Abgabe verpflichtet werden.
Welche Fristen gelten – und drohen Nachzahlungen?
Fordert das Amt eine Steuererklärung, muss sie binnen der gesetzten Frist – hier vier Wochen – eingehen oder begründet verlängert werden.
Rückwirkend verlangt die Behörde in aller Regel Erklärungen für die vergangenen vier Kalenderjahre. Erst nach Prüfung entscheidet sich, ob tatsächlich Steuer nachzuzahlen ist.
Denn von der Bruttorente werden der individuelle Rentenfreibetrag, Beiträge zur Kranken‑ und Pflegeversicherung, Sonder‑ und Pauschbeträge abgezogen.
Bei vielen Betroffenen führt das zu einer Null‑Festsetzung; wer jedoch oberhalb des Freibetrags bleibt, zahlt Einkommensteuer – unabhängig vom Lebensalter.
Gibt es Ausnahmen aufgrund von Alter, Pflegegrad oder gesundheitlichen Einschränkungen?
Das Einkommensteuergesetz kennt weder einen „Rentnerbonus“ noch eine Altersgrenze, ab der Steuerschulden erlassen würden.
Schwerbehinderte Menschen können zwar einen Behinderten‑Pauschbetrag geltend machen, Pflegebedürftigen steht ein Pflege‑Pauschbetrag für betreuende Angehörige zu, doch diese mindern lediglich die Bemessungsgrundlage. Reicht das nicht, bleibt die Steuerpflicht bestehen.
Die Erklärung darf jedoch ein Bevollmächtigter – etwa der Sohn, ein Steuerberater oder Lohnsteuer‑Hilfeverein – abgeben, wenn die Seniorin dazu selbst nicht mehr in der Lage ist.
Wie lässt sich die Steuerlast legal mindern?
Wer seine Renteneinkünfte erklärt, sollte sämtliche abzugsfähigen Ausgaben erfassen: Beiträge zur Kranken‑ und Pflegeversicherung, haushaltsnahe Dienstleitungen, Spenden, Kirchensteuer oder Werbungskosten wie Steuerberatungskosten.
Sogar der Pflegeaufwand kann unter Umständen abgezogen werden. Eine akribische Feststellung dieser Beträge führt häufig dazu, dass die Steuer gar nicht oder nur in geringer Höhe festgesetzt wird. Wichtig ist, Nachweise aufzubewahren und Fristen einzuhalten.
Was raten Experten – und welche Lehren sollten alle Rentner ziehen?
Rechtsanwalt und Rentenberater Peter Knöppel betont, die Aufforderung des Finanzamts sei kein Skandal, sondern eine Konsequenz der gesetzlichen Regelungen.
Sein Rat lautet, “Schreiben der Behörde nie zu ignorieren, sondern sofort fachkundigen Rat einzuholen”. Millionen Rentnerinnen und Rentner geben längst Steuererklärungen ab – wer sich darauf einstellt, erlebt seltener böse Überraschungen. Transparenz, vollständige Unterlagen und ggf. professionelle Hilfe sind die beste Vorsorge.
Denn das Finanzamt unterscheidet nicht zwischen 70‑, 90‑ oder 100‑Jährigen, sondern nur zwischen erklärten und nicht erklärten Einkünften.
Der Fall der 99‑Jährigen zeigt, wie digitalisierte Datenströme klassische Ausnahmesituationen beseitigen. Für die Betroffene mag der Brief ein Schock sein – für alle anderen Rentner ist er ein dringender Hinweis, die eigene Steuerpflicht regelmäßig zu überprüfen und nicht erst auf das nächste Schreiben zu warten.