Merz-Regierung kündigt weitgende Änderungen beim Schwerbehindertenausweis an – Wie viel Fortschritt steckt wirklich hinter dem neuen Ausweis? Warum gibt es Kritik? Unsere Expertin für Behindertenrecht Carola-Jana Klose hat sich den Koalitionsvertrag genauer angeschaut.
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Was plant die künftige Regierung beim digitalen Schwerbehindertenausweis?
Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD verspricht eine „sichere, überall einsetzbare“ Smartphone-Version des Schwerbehindertenausweises. Neben dem Rentenausweis und der A1-Bescheinigung soll das Dokument künftig in einer behördlichen Wallet-App abgelegt werden können.
Die Bundesregierung will damit nach eigenen Angaben die Sichtbarkeit der rund acht Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland erhöhen und zugleich Behördengänge, Ticket-Kontrollen oder Parkvorgänge vereinfachen. Ein einheitliches digitales Identitäts-Frontend soll den Zugang an Bahnhöfen, in Theatern oder bei der Gesundheitskarte ermöglichen.
Reicht dieser Schritt aus, um Inklusion messbar zu verbessern?
Digitalisierung ist ein wichtiger Hebel, sie ist jedoch kein Allheilmittel. In der UN-Behindertenrechtskonvention, auf die sich die Koalition ausdrücklich bezieht, steht Teilhabe gleichberechtigt neben Barrierefreiheit.
Ein Smartphone-Ausweis kann behinderte Menschen entlasten – etwa weil sie die Plastikkarte nicht mehr präsentieren oder Ersatzdokumente nach Verlust zeitraubend beantragen müssen.
Doch der Ausweis ist nur das Tor: Erst wenn das dahinterliegende Ticket- oder Antragssystem barrierefrei arbeitet, wachsen echte Frei- und Wahlrechte. Ohne solche Standards droht digitale Exklusion, wie der Sozialverband VdK warnt.
Sind digitale Angebote heute überhaupt barrierefrei genug?
Der Alltag zeigt das Gegenteil. Viele Behörden-Portale erreichen selbst fünfzehn Jahre nach Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes nicht die Mindestanforderungen der europäischen Richtlinie 2016/2102 zur Zugänglichkeit.
Screenreader scheitern an schlecht ausgezeichneten Schaltflächen, Untertitel-Spuren für Gehörlose fehlen, CAPTCHA-Eingaben verstellen sehbehinderten Antragstellern den Weg.
Blinde Menschen berichten, dass sie online zwar einen Parkausweis beantragen können, aber beim Bezahlen an animierten Formularen scheitern.
Der Sozialverband fordert deshalb verpflichtende „Accessibility Checks“, bevor eine App in den Stores landet – nach dem Vorbild der TÜV-Plakette im Straßenverkehr.
Geplante Werkstatt-Reform für den Übergang in den ersten Arbeitsmarkt
Mit der Ankündigung, das bestehende Werkstattsystem zu „modernisieren“, greift die Koalition eine Debatte auf, die seit Jahren schwelt.
Konkret sollen Ausbildungsinhalte künftig am dualen System ausgerichtet und Abschlüsse zertifiziert werden, damit sie auch außerhalb der Werkstatt Anerkennung finden. Gleichzeitig will die Bundesagentur für Arbeit Jobcoaches finanzieren, die Beschäftigte in regulären Betrieben begleiten.
Entscheidend ist aber, dass das Sozial- und Rentenrecht mitzieht: Wer den Sprung wagt, darf nicht riskieren, durch höheren Verdienst Unterstützungsansprüche oder einen Anspruch auf medizinische Rehabilitation zu verlieren.
Nur wenn Teilhabe sich auch finanziell lohnt, wird sie zum gelebten Prinzip.
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Wird das „Budget für Arbeit“ endlich zu einer echten Brücke in Betriebe?
Der Koalitionsvertrag verspricht, das bisher wenig genutzte Instrument „flächendeckend bekannt zu machen“ und die Antragswege zu straffen. Bislang deckt das Budget bis zu 75 Prozent des Lohns, doch die Beantragung ist komplex, und die bewilligten Summen variieren zwischen den Ländern.
Künftig soll ein bundesweiter Sockelbetrag gelten, der automatisch mit steigender Tarifbindung oder Mindestlohnentwicklungen indexiert wird. Ob das Programm Erfolg hat, hängt allerdings auch davon ab, ob Unternehmen es – jenseits von CSR-Statements – wirklich in ihre Personalplanung einpreisen.
Kann der Bürokratieabbau den Wandel beschleunigen, ohne Leistungen zu kürzen?
Viele Leistungsbescheide im Bereich der Eingliederungshilfe umfassen heute mehr Seiten als der Mietvertrag einer Berliner Altbauwohnung. Die Regierung plant deshalb eine digitale Akte, auf die sowohl Pflegekassen als auch Integrationsämter zugreifen können.
Vor-Ort-Begutachtungen sollen mithilfe datenschutzkonformer Video-Checks verkürzt werden. Kritiker fürchten, dass damit der persönliche Kontakt verlorengeht und Widerspruchsmöglichkeiten schrumpfen.
Die Regierung Merz verspricht hingegen, Einspruchsfristen zu verlängern – ein Zugeständnis an die heterogene Klientel, die Dokumente häufig in einfacher Sprache oder Gebärdenvideo benötigt.
Wie will Berlin Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen wirksam vor Gewalt schützen?
Spätestens seit den Missbrauchskandalen der vergangenen Jahre steht der Gewaltschutz ganz oben auf der Behinderten-Agenda.
Der Koalitionsvertrag nennt erstmals „verbindliche Standards“ für stationäre wie ambulante Einrichtungen.
Diese sollen einheitliche Notruf-Strukturen, Pflichtschulungen für Mitarbeitende und leicht zugängliche Beschwerdestellen umfassen. Frauenbeauftragte in Werkstätten erhalten ein gesetzliches Mitspracherecht bei den Aufsichtsgremien.
Wie streng die Kontrollmechanismen am Ende sein werden, hängt von der Ausgestaltung der Bundesgesetzgebung und ihrer Umsetzung auf Länderebene ab.
Welche Folgen könnte das Reformpaket haben?
Gelingt die Umsetzung, könnte Deutschland in Sachen digitaler Teilhabe eine Vorreiterrolle in der EU einnehmen. Ein inklusiv gestalteter digitaler Ausweis sendet das Signal, dass Behinderung kein Sonderfall, sondern Teil der gesellschaftlichen Normalität ist. Doch die Skepsis der Verbände zeigt, dass Vertrauen erst entstehen muss.
Werden Barrierefreiheit und Gewaltschutz zu Pflichtkriterien bei jeder Innovationsschleife, profitieren auch andere Bevölkerungsgruppen – von Seniorinnen bis zu Menschen mit Migrationsgeschichte.
Misslingt das Projekt jedoch, droht eine vertiefte digitale Kluft: Dann würde der neue Ausweis zum Symbol einer gut gemeinten, aber schlecht gemachten Reform.
Ausblick: Aufbruch oder Alibi?
Ob aus den Überschriften des Koalitionsvertrags gelebte Praxis wird, entscheidet sich in den kommenden Monaten, wenn die ersten Piloten für die digitale Ausweis-App starten und das Fachgespräch zur Werkstatt-Reform beginnt. Inklusion ist ein Marathon, kein Sprint.
Die rechte Hand des Fortschritts ist die Technik – die linke heißt Barrierefreiheit. Nur wenn beide im gleichen Takt laufen, erreicht Deutschland das Ziel einer vollumfänglich teilhabenden Gesellschaft.