Neues Jobcenter-Petzportal bringt Bürgergeld-Bezieher in große Not

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Seit Frühjahr 2025 betreibt die Bundesagentur für Arbeit (BA) unter der nüchternen Überschrift „Hinweise zu einem möglichen Leistungsmissbrauch“ ein Online‑Formular, das jede Person – namentlich oder völlig anonym – nutzen kann, um Verdachtsfälle gegen Bürgergeld‑Empfänger melden.

Die BA begründet das Petzportal mit dem Auftrag, Steuergelder zu schützen und missbräuchliche Zahlungen rasch zu stoppen. Dass das Portal „immer häufiger“ genutzt werde, räumte ein BA‑Sprecher ein, konkrete Zahlen veröffentlicht die Behörde allerdings nicht.​

BA-Petzportal: Einfach mal den Nachbarn anschwärzen

Die Maske fragt lediglich nach Namen, Adresse und Art des vermeintlichen Betrugs; ein Nachweis ist nicht erforderlich.

Wer anonym meldet, braucht keinerlei Kontaktdaten anzugeben, sodass Rückfragen der Sachbearbeitung oft unmöglich sind. Datenschützer kritisieren, dass die BA auch nach dem achten Monat Online‑Betrieb keinen standardisierten Prüfpfad vorlegt, der falsche Anschuldigungen frühzeitig herausfiltert.

Selbst im jüngsten Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftragten für den Datenschutz taucht das Portal als Beispiel für „strukturell riskante anonyme Meldesysteme“ auf.​

Welche Folgen hat das für Betroffene?

Ein aktuelles Beispiele ist der Fall von Nicole W., alleinerziehende Mutter zweier Kinder. Nachbarn meldeten dem Jobcenter, der Vater habe wieder in der Wohnung gelebt; daraufhin strich die Behörde den Mehrbedarf für Alleinerziehende, forderte knapp 2 000 Euro zurück und stellte die Regelleistung vorläufig ein.

Erst die Initiative Sanktionsfrei e. V. finanzierte eine Anwältin und erreichte, dass die Zahlungen wieder anlaufen.

Nicole W. ist kein Einzelfall: In den Beratungsstatistiken des Vereins häufen sich laut Gründerin Helena Steinhaus Hinweise auf „Existenzgefährdungen binnen weniger Tage“ nach anonymen Anzeigen.​
Sanktionsfrei e.V.

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Kann das Petzportal überhaupt gegen Betrug helfen?

Die BA verweist darauf, dass der Großteil überzahlter Leistungen weiterhin durch automatisierten Datenabgleich entdeckt wird – 2022 waren es gut 88 000 Fälle mit einem Schadensvolumen von 56,9 Millionen Euro.​

Demgegenüber bleibt die tatsächliche Trefferquote der Online‑Hinweise im Dunkeln, weil die Behörde keine Statistik führt, wie viele Meldungen sich als begründet erweisen. Arbeitsmarktforscher sprechen daher von einer „Symbolpolitik“, die mehr Misstrauen als Effizienz erzeuge.

Rechtliche Grauzonen

Experten wie der Sozialrechtsexperte Dr. Utz Anhalt rügen, dass das Portal faktisch einen öffentlichen Pranger etabliert, ohne den Betroffenen rechtliches Gehör vor der Leistungsunterbrechung zu garantieren. Im Sozialrecht gilt zwar der Amtsermittlungsgrundsatz, doch müssen Jobcenter bei Hinweisen „vernünftige tatsächliche Anhaltspunkte“ prüfen.

Wenn – wie im Fall Nicole W. – schon bloße Behauptungen reichen, um Leistungen zu stoppen, drohen laut Deutschem Anwaltsverein verstärkte Klagewellen wegen Verletzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips.

Bundesagentur für Arbeit ignoriert wachsende Kritik

Die BA verweist auf interne Dienstanweisungen, die Sachbearbeiter*innen zu „sorgfältiger Plausibilitätsprüfung“ verpflichten, kündigte aber eine „Überarbeitung des Formulars“ an, um missbräuchliche Meldungen einzudämmen. Ein Termin liegt bislang nicht vor.

Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil (SPD) erklärte im Ausschuss für Arbeit und Soziales lediglich, man wolle „eine Balance zwischen Betrugsbekämpfung und Bürgerrechten“ finden, ohne das Portal grundsätzlich infrage zu stellen.​

Initiativen wie Sanktionsfrei, Tacheles oder das Bündnis AufRecht bestehen dokumentieren systematisch Fälle falscher Verdächtigungen, leisten Nothilfefonds und begleiten Klagen. Die Anfragen bei Sanktionsfrei stiegen laut Vereinsangaben im ersten Quartal 2025 um 34 Prozent gegenüber dem Vorjahr – ein Zuwachs, den Steinhaus direkt auf das Hinweisportal zurückführt.

Befürworter betonen, dass auch kleine Quoten echten Betrugs dem Vertrauen in das Bürgergeld schadeten und ein niedrigschwelliges Meldesystem präventiv wirke. Kritiker halten dagegen, dass 2024 nur 1,8 Prozent aller Bürgergeld‑Bescheide im Widerspruch landeten und die Zahl der Rückforderungen seit Jahren sinkt, während Klagen lediglich leicht zunahmen.​

Für sie ist das Portal Ausdruck eines gesellschaftlichen Klimas, das Armut kriminalisiert, statt Ursachen zu bekämpfen.