Rüdiger Schuch, der Präsident der Diakonie, findet im Interview mit der Augsburger Allgemeinen deutliche Worte dafür, wie die Debatte über Bürgergeld-Berechtigte geführt wird. Er warnt außerdem davor, dringende Probleme des Sozialstaats zu vernachlässigen und erwähnt als Beispiel die häusliche Pflege.
Inhaltsverzeichnis
Eine populistische Diskussion
Schuch sagt: “Mich erfüllt mit Sorge, dass die Diskussion um das Bürgergeld derart populistisch betrieben wird. Ich halte es für gefährlich, auf Kosten derer, die es eh nicht einfach haben im Leben, politischen Streit zu entfesseln.”
Spiel mit falschen Zahlen
Er rückt auch die falschen Zahlen gerade, mit denen zum Beispiel Carsten Linnemann, der Generalsekretär der CDU, Stimmung gegen Hilfebedürftige macht, indem er behauptet, eine sechsstellige Zahl der Bürgergeld-Bezieher würde Arbeit verweigern.
Schuch erläutert: “Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass zwischen 14.000 und 16.000 Menschen nicht arbeitswillig sind. Es wird aber suggeriert, dass wir es mit Hunderttausenden von Menschen zu tun haben, die sich mit dem Bürgergeld ein ruhiges Leben machen. Seriös ist das nicht.”
Ehrenamt wird ignoriert
Schuch zufolge ignorieren Politiker fast aller Parteien den Beitrag, den Bürgergeld-Bezieher für die Gesellschaft leisten: “In der Debatte geht zum Beispiel völlig unter, dass viele Bürgergeldempfänger zwar nicht in der Lage sind zu arbeiten, sich aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten ehrenamtlich engagieren und so auch einen Beitrag für die Gesellschaft leisten. Auch von daher halte ich eine populistisch zugespitzte Diskussion für unfair.”
Sozialstaat bedeutet Demokratie
Der Diakonie-Vorsteher macht zudem auf die Fehlwahrnehmung aufmerksam, dass es sich bei Sozialleistungen um freiwillige Gaben handle: “Beim Sozialstaat, den wir treffsicher und chancenorientiert weiterentwickeln müssen, geht es nicht um Almosen, die sozusagen vom Tisch fallen. Der Sozialstaat gehört untrennbar zur stabilen Demokratie. (…) Der Sozialstaat ist aus guten Gründen Staatsziel, alle Parteien sollten sich ihm verpflichtet fühlen.”
Katastrophe in der Pflege in Sicht
Schuch zeigt klar, dass zum Sozialstaat viel mehr gehört als die Debatte über Bürgergeld und verweist auf einen Notstand, der allzuoft unter den Teppich gekehrt wird, nämlich den in der Pflege: “Wir sind bereits in einer sehr krisenhaften Lage. Wenn es nicht bald zu einer wirklichen Reform der Pflegepolitik kommt, dann geraten wir in den nächsten drei, vier Jahren in eine katastrophale Situation.”
Bereits jetzt sei die Situation bedenklich: “Aktuell werden von den etwa 5,7 Millionen Pflegebedürftigen in Deutschland 4,9 Millionen zu Hause gepflegt. Wenn aber aufgrund der unzureichenden Finanzierung und des Fachkräftemangels immer mehr Überforderung in der häuslichen Pflege entsteht und Familien das Gefühl haben, dass sie alleingelassen werden, dann erodiert das Vertrauen in die Lösungskompetenz der demokratischen Parteien.”
Pflegereformn stärkt die Demokratie
Der Präsident der Diakonie warnt davor, dass es die Demokratie selbst gefährdet, den Pflegenotstand zu ignorieren, denn “wir brauchen eine gut ausfinanzierte Pflegeversicherung. Wir brauchen dringend eine Pflegereform. Nur so entsteht Vertrauen, dass dieser Staat den demografischen Wandel bewältigen kann. Sonst haben die Demokratieverächter neues Futter.”
Die Reichsten müssen ihren Anteil leisten
Zudem richtet er sich gegen das Treten nach Unten, während an die Superreichen Geschenke verteilt werden.
Er sagt: “Ich erhoffe mir, dass wir in Zeiten knapper Gelder auch darüber nachdenken, wie diese starken Schultern ihre gesamtgesellschaftliche Verantwortung stärker wahrnehmen können. Dazu gehört, dass man sich auch das Steuersystem anschaut.
Das Ziel muss doch sein, die Herausforderungen der kommenden Jahre fair zu finanzieren. Bisher wird nur über Kürzungen bei den Ärmsten diskutiert. Was ist mit den Vermögendsten?”
Gegen die Stimmungsmache
Schuch stellt sich nicht nur der Stimmungsmache gegen Bürgergeld-Berechtigte entgegen, sondern auch den Anschuldigungen gegen Geflüchtete Fakten entgegen.
Er sagt: “75 Prozent der 2015 ins Land gekommenen männlichen, erwerbsfähigen Syrer sind heute auf unserem Arbeitsmarkt integriert. Viele von ihnen in helfenden Berufen.”
Dabei spricht er auch von seiner persönlichen Erfahrung: “Ich habe kürzlich einen Ehrenamtlichen kennengelernt, der trotz einer chronischen Erkrankung, die ihn erwerbsunfähig macht, sich in einer Bahnhofsmission engagiert und dort unersetzlich geworden ist. Das ist keiner, der Hängematten-Geld annimmt, sondern der sich für diese Gesellschaft einbringt.”
Schuch schließt: “Das sind die kleinen Geschichten. Und dann gibt es auch größere, die mich hoffnungsfroh stimmen. Es ist wichtig, den Ernst der weltpolitischen Lage wahrzunehmen. Gleichzeitig muss man die Probleme aber ins Verhältnis setzen zu den Fortschritten und Lösungen.”
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.