Die 11. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen (Az. 11 K 2880/20, Urteil vom 22.01.2025) stellte fest, dass ein Arbeitgeber beim Integrationsamt die Zustimmung zur auรerordentlichen Kรผndigung unverzรผglich beantragen muss.
Langwierige Vorermittlungen verlรคngern die dafรผr geltende Zwei-Wochen-Frist nur, wenn sie zielgerichtet und sachlich begrรผndet sind. Im konkreten Fall war die Behรถrde verpflichtet, die Zustimmung zur Kรผndigung zu erteilen.
Inhaltsverzeichnis
Begrรผndung des Gerichts
Das Gericht begrรผndete dies damit, dass die Arbeitgeberin trotz komplexer Recherchen fristgerecht handelte. Schwerbehinderte Beschรคftigte mรผssen sich aber keine Sorgen machen, dass ihnen Rechte abgeschnitten werden.
Die Entscheidung betont, dass das Integrationsamt weiterhin prรผfen muss, ob Behinderung und Kรผndigungsgrund in Verbindung stehen.
Hintergrund des Verfahrens
Der Fall betraf eine langjรคhrig bei einer Stadtverwaltung angestellte Frau, die wegen kรถrperlicher und seelischer Einschrรคnkungen einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist.
Ihre Aufgaben lagen in der Verkehrsรผberwachung. Nach Angaben des Fachbereichs รffentliche Ordnung habe sie eine Kollegin gedrรคngt, eine Verwarnung ihrer Tochter zu stornieren. Auรerdem habe sie erwartet, selbst nicht verwarnt zu werden.
Auf Nachfrage bestritt die Betroffene zunรคchst alles, rรคumte aber ein Gesprรคch ein, das sie spรคter anders interpretierte. Da zusรคtzlich Gerรผchte รผber mรถgliche โsystematischeโ Stornierungen von Strafzetteln kursierten, lieร die Personalabteilung die Vorgรคnge genauer untersuchen.
Die Stadt stellte groรflรคchige Recherchen an, indem sie tausende Datensรคtze in Excel-Tabellen prรผfte. So wollte sie sicherstellen, ob ein verbreitetes Fehlverhalten vorlag oder nur ein Einzelfall. Diese รberprรผfung dauerte mehrere Wochen. Wรคhrend dieser Zeit bestritt die betreffende Arbeitnehmerin jegliches Fehlverhalten.
Einige Kolleginnen erklรคrten, dass sie von ihr nie aufgefordert worden seien, Verwarnungen zurรผckzunehmen. Eine andere Mitarbeiterin bestรคtigte den Vorwurf hingegen. Auf Grundlage dieser widersprรผchlichen Aussagen beantragte die Personalabteilung beim Integrationsamt die Zustimmung zur auรerordentlichen Kรผndigung.
Wesentliche Rechtsgrundlagen
Die Kรผndigung eines schwerbehinderten Menschen bedarf nach ยง 168 SGB IX der Zustimmung des zustรคndigen Integrationsamtes. Will ein Arbeitgeber fristlos kรผndigen, muss er zusรคtzlich die Frist des ยง 174 Abs. 2 SGB IX beachten: Er hat zwei Wochen Zeit, um den Antrag zu stellen, sobald er von allen wichtigen Fakten erfรคhrt.
Das Integrationsamt soll die Kรผndigung grundsรคtzlich durchwinken, wenn keine Verbindung zwischen Kรผndigungsgrund und Behinderung besteht. Nur in atypischen Fรคllen darf es abweichend entscheiden, etwa bei besonderer Hรคrte oder wenn die Kรผndigung offensichtlich unwirksam wรคre.
Tatkรผndigung vs. Verdachtskรผndigung
Tatkรผndigung:
Der Arbeitgeber wirft dem Beschรคftigten ein nachgewiesenes Fehlverhalten vor. Er verlรคsst sich nicht bloร auf Vermutungen, sondern hat konkrete Indizien oder Beweise.
Verdachtskรผndigung:
Hier stรผtzt sich die Kรผndigung auf plausibel erscheinende Vermutungen. Der Arbeitgeber konnte den Sachverhalt nicht restlos klรคren, sieht aber handfeste Grรผnde, die Zweifel an der Vertrauenswรผrdigkeit der Person wecken.
Im vorliegenden Fall entschied sich die Arbeitgeberin, eine Tatkรผndigung einzuleiten, nachdem sie Daten analysiert und Zeugen befragt hatte. Der Verdacht erschien ihr so gravierend, dass eine auรerordentliche Kรผndigung gerechtfertigt schien.
Warum spielte die Frist eine groรe Rolle?
Weil das Integrationsamt die Zustimmung verweigerte und argumentierte, die Dienststelle habe den Antrag verspรคtet eingereicht. Die Behรถrde meinte, dass die wesentlichen Fakten bereits Wochen zuvor bekannt gewesen seien. Sobald klar ist, dass Beschรคftigte grob gegen Kernpflichten verstoรen, muss der Arbeitgeber unverzรผglich handeln.
Wer weitere Nachforschungen anstellt, darf die Frist nicht unbegrenzt in die Lรคnge ziehen. Dieses โbeschleunigteโ Verfahren soll verhindern, dass eine auรerordentliche Kรผndigung intransparent verzรถgert wird.
Gericht gab der Arbeitgeberin recht
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gab hier aber der Arbeitgeberin recht. Die Verantwortlichen durften erst alle wichtigen Tatsachen zusammentragen, bevor sie eine finale Entscheidung trafen. Das Gericht hielt die umfangreichen Ermittlungen fรผr gerechtfertigt, weil der Verdacht auf mehrere mรถgliche Pflichtverletzungen unterschiedlicher Personen hinwies.
Zudem lagen widersprรผchliche Aussagen vor. Der Arbeitgeber musste klรคren, ob die Betroffene eine einmalige Grenzรผberschreitung begangen hatte oder ob ein ganzes Netzwerk von Falschbuchungen im Raum stand. Laut Gericht wurde innerhalb dieser Zeit trotz der Fรผlle an Daten angemessen schnell gearbeitet. Anschlieรend erfolgte der Antrag fristgerecht.
Zusammenhang zwischen Kรผndigungsgrund und Behinderung
Eine zentrale Frage laut ยง 174 Abs. 4 SGB IX lautet: โBesteht ein Bezug zwischen dem Fehlverhalten und der Behinderung?โ Nur wenn die Behinderung das Verhalten direkt beeinflusst, soll die Kรผndigung nicht ohne Weiteres mรถglich sein.
Ein Beispiel: Eine psychische Beeintrรคchtigung kann bei unkontrollierten Wutausbrรผchen als Ursache gelten. Das Integrationsamt kรถnnte dann genauer prรผfen, ob eine Behinderung das Handeln ausgelรถst hat.
Im verhandelten Fall beurteilte das Gericht den Vorwurf als reines Fehlverhalten, ohne ersichtliche Verbindung zur Behinderung. Die angebliche Aufforderung, Verwarnungen zu lรถschen oder Parkverstรถรe nicht zu erfassen, lieร sich nicht einfach mit einer krankheitsbedingten Einschrรคnkung erklรคren.
Deshalb fiel das Verhalten nicht in den Bereich eines โbehinderungsbedingtenโ Problems. Folglich war eine Verweigerung der Zustimmung aus diesem Grund nicht angezeigt.
Bedeutung fรผr Arbeitgeber und Beschรคftigte
Der Fall zeigt, dass sich Arbeitgeber bei schwerwiegenden Verstรถรen nicht scheuen sollten, grรผndlich zu recherchieren. Das Gesetz gibt Raum fรผr sachliche Vorermittlungen, um sich รผber den exakten Tathergang klarzuwerden.
Gleichzeitig mรผssen sie beachten, dass nach Abschluss der Erkundungen die Uhr tickt. Innerhalb der Zwei-Wochen-Frist muss der Antrag beim Integrationsamt sein.
Welche Vorteile haben die Beteiligten davon?
Arbeitgeber vermeiden, eine รผbereilte Kรผndigung auszusprechen und riskieren nicht den Vorwurf รผberlanger Untรคtigkeit.
Schwerbehinderte Beschรคftigte kรถnnen sicher sein, dass der Kรผndigungsprozess strukturiert und zeitnah erfolgt.
Personalrรคte und Schwerbehindertenvertretungen erhalten so eine eindeutige Rechtsgrundlage, um ihren Beratungsauftrag klar wahrzunehmen.
Tipps fรผr die Praxis
Zรผgige Klรคrung: Fรผhren Sie sofort nach Bekanntwerden eines potenziellen Verstoรes Aufklรคrungsgesprรคche.
Dokumentation: Notieren Sie, wann Ihnen wichtige Fakten zugegangen sind, damit die Zwei-Wochen-Frist nachweisbar bleibt.
Einbindung von Personalvertretungen: Kontaktieren Sie Personalrat oder Schwerbehindertenvertretung frรผhzeitig. Das fรถrdert Transparenz und vermeidet Misstrauen.
Vermeidung von Scheinkรผndigungsgrรผnden: Achten Sie darauf, dass der benannte Kรผndigungsgrund nicht rein spekulativ ist. Ein geschlossener Sachverhalt trรคgt die Kรผndigung besser als bloรe Vermutungen.
Fristablauf beachten: Beginnt die Frist, dรผrfen Sie nicht mehr zรถgern. Stellen Sie den Zustimmungsantrag rechtzeitig.
Atypische Fรคlle und Offensichtlichkeit
Das Integrationsamt kann nur in Ausnahmefรคllen von seinem grundsรคtzlichen โJaโ abweichen, wenn die Behinderung unbedeutend fรผr das Fehlverhalten ist. Solche Abweichungen sind denkbar, falls die Kรผndigung erkennbar unwirksam wรคre. Etwa, wenn keinerlei Pflichtverstoร vorliegt oder die Vorwรผrfe konstruiert erscheinen.
Ist die Rechtslage strittig, werden die Arbeitsgerichte einbezogen. Dort klรคrt sich, ob ein echter Kรผndigungsgrund existiert oder ob das Vertrauensverhรคltnis unheilbar gestรถrt ist.