In Deutschland arbeiten mehr als 310.000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen, zu einem Stundenlohn von rund 1,48 Euro, also circa einem Achtel des gesetzlichen Mindestlohns. Unternehmen bereichern sich durch diese Regelung und umgehen zugleich die Pflicht, Menschen mit Schwerbehinderung einzustellen.
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Hunderttausende fast unbezahlte Arbeitskräfte
In der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) sind rund 700 Hauptwerkstätten organisiert. In diesen arbeiten an mehr als 3.000 Standorten über 310.000 Werkstattbeschäftigte. Drei Viertel der Beschäftigten haben eine geistige Behinderung, circa jeder fünfte eine psychische und rund vier Prozent eine körperliche. Fast jeder Dritte ist über 50 Jahre alt.
Verdienst weit unter Mindestlohn
Die Werktätigen „verdienen“ rund 220 Euro pro Monat. Der gesetzliche Mindestlohn 2024 beträgt 12,41 Euro pro Stunde und damit bei einer 40-Stunden-Woche bei rund 2.150 Euro brutto im Monat (und auch diesen sehen Gewerkschaften als viel zu niedrig an).
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Betroffene machen auf schlechte Arbeitsbedingungen aufmerksam
Betroffene wehren sich. Bereits 2022 machten sie unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus auf ihre miserablen Arbeitsbedingungen aufmerksam. Eine Autorin mit dem Synonym „Rollifräulein“ twitterte: „Im Grundgesetz heißt es übrigens nicht,”die Würde des Menschen ist dann unantastbar, wenn er nichtbehindert ist und volle 9 Stunden am Tag Kapital erwirtschaftet.“
Offiziell ist die Arbeit eine Reha-Maßnahme
Wie begründet es der Staat, dass Menschen extrem weit unter dem Mindestlohn schuften? Offiziell ist die Arbeit in den Werkstätten als Rehabilitationsmaßnahme definiert. Deswegen gelten die Arbeiter und Arbeiterinnen nicht als Arbeitnehmer, sondern erhalten lediglich ein Werkstatt-Entgelt aus einem Grundbetrag und einem Steigerungsbetrag, festgelegt im Paragrafen 221 Absatz 2 SGB IX.
Die Werkstätten sollen angeblich als Reha-Maßnahme für den ersten Arbeitsmarkt qualifizieren und zum Beispiel Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten verbessern. Tatsächlich liegt die Quote derjenigen, die aus den Werkstätten in den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen, konstant unter einem Prozent.
Entwicklung nicht erwünscht
Die Werkstätten sind in der Realität stattdessen ein geschlossenes System, das systematisch verhindert, dass Betroffene in den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen. Die dort Tätigen werden als „nicht erwerbsfähig eingestuft“, was rechtfertigen soll, sie nicht als Arbeitnehmer zu behandeln.
Hohe Gewinne durch fast unbezahlte Arbeit
Unternehmen profitieren davon, dass die Werkstätten für sie ganze Aufgabengebiete erledigen, besonders in der Auto- und Stahlindustrie. Indem die Firmen diese Arbeit auslagern, mindern sie die Kosten für die Produktion um ein Vielfaches und erhöhen ihre Gewinne. Jedes Jahr werden so mehrere Milliarden Euro umgesetzt – ohne Probleme könnte damit den Beschäftigten zumindest der Mindestlohn gezahlt werden.
Die Unternehmen profitieren doppelt
Für die Unternehmen ist es sogar ein doppelt guter Deal: Sie steigern nicht nur ihre Profite gewaltig, sondern stehlen sich auch noch aus der gesetzlichen Pflicht, eine Quote an Menschen mit Schwerbehinderten einzustellen. Durch die Arbeit der fast unbezahlten Tätigen in den Werkstätten streichen die Firmen zu ihrem Gewinn sogar noch eine Ausgleichsabgabe ein.
Der Staat zahlt für Passivität
Die Betreiber der Werkstätten bekommen pro beschäftigtem Menschen reichlich finanzielle Unterstützung. Der Staat zahlt gerne, denn er windet sich durch diese vermeintliche Rehabilitation aus dringend nötigen Maßnahmen heraus, z. B. um Menschen mit Behinderungen die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen.
Außerdem können staatliche Behörden so Aufträge vergeben, ohne sich an die Standards der EU-weiten Ausschreibungen zu halten, und das ist in den Werkstätten eine gängige Praxis.
Auf Kosten der Arbeitenden
In diesem geschlossenen System profitieren also der Staat ebenso wie die Betreiber und ebenso die belieferten Unternehmen. Dies geht auf Kosten der arbeitenden Menschen mit Behinderungen, die in diesen Werkstätten tätig sind.
Die Beschäftigten haben weder den Mindestlohn von Arbeitnehmern noch Arbeitsrechte wie das Streikrecht, und das, obwohl sie oft ebenso in einem Acht-Stunden-Tag regulär arbeiten.
Die Werkstätten verletzen die UN-Behindertenrechtskonvention
Die EU-Parlamentarierin Katrin Langensiepen fordert die Abschaffung der Werkstätten und erläutert: „Es ist das bestausgeweitete Billiglohn-Modell EU-weit. Nirgendwo in der EU kann ein Unternehmen so billig produzieren lassen wie in einer WfbM.“
Die Vereinten Nationen fordern aus gutem Grund die Auflösung der Werkstätten. Laut UN-Behindertenrechtskonvention hat jeder Mensch das Recht, seinen Arbeitsplatz frei zu wählen, und der Lohn für geleistete Arbeit muss ausreichen, um den Lebensunterhalt zu sichern.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.