Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat im Verfahren L 13 SB 60/23 am 14. Februar 2024 ein wichtiges Urteil zum Schwerbehindertenrecht gefรคllt. Im Fokus steht die Frage, unter welchen Voraussetzungen bei insulinpflichtigen Kindern und Jugendlichen mit Diabetes Typ I ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 anerkannt werden kann.
Dabei kommt es laut Entscheidung nicht allein darauf an, dass eine intensive Insulintherapie durchgefรผhrt wird. Entscheidend ist vielmehr, ob tatsรคchlich gravierende Teilhabebeeintrรคchtigungen im Alltagsleben vorliegen, die รผber den รผblichen Therapieaufwand hinausgehen.
Inhaltsverzeichnis
Wann liegt eine gravierende Beeintrรคchtigung der Lebensfรผhrung vor?
Nach Auffassung des Gerichts ist eine schwere Beeintrรคchtigung in der Lebensfรผhrung bei insulinpflichtigen Diabetikern im Minderjรคhrigenalter nicht automatisch anzunehmen. Allein aus dem Lebensalter oder rein psychischsozialen Erwรคgungen folgt keine Erhรถhung des Einzel-GdB auf 50. Der Leitsatz verdeutlicht, dass erst dann von einer gravierenden Einschrรคnkung auszugehen ist, wenn sich etwaige Befรผrchtungen โ beispielsweise in Form von erheblichen Verhaltensauffรคlligkeiten โ tatsรคchlich realisieren.
Das Gericht fรผhrt dazu aus, dass ein Jugendlicher, der in Schule und Freizeit sozial gut eingebunden ist, gute Leistungen erbringt und altersgemรคร unauffรคllig agiert, keine gravierende Teilhabebeeintrรคchtigung im Sinne der Versorgungsmedizinischen Grundsรคtze (VMG) aufweist.
Zusรคtzlich wird klargestellt, dass der altersbedingt erhรถhte Hilfebedarf eines 9 bis 13-jรคhrigen Kindes fรผr sich allein nicht automatisch einen GdB von 50 rechtfertigt. Die in den VMG vorgesehenen Werte sind zwar maรgeblich, gelten aber grundsรคtzlich altersunabhรคngig als Mittelwerte.
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Wie kam es zu diesem Berufungsverfahren?
Die Klรคgerin hatte sich wegen ihrer Diabeteserkrankung zunรคchst im Mรคrz 2020 in stationรคrer Behandlung befunden. Dabei wurden mehrfach tรคglich Blutzuckermessungen und Insulingaben nรถtig. Die Pflegekasse stufte sie in den Pflegegrad 2 ein. Weil die Betroffene und ihre Eltern einen hรถheren GdB fรผr gerechtfertigt hielten, legten sie erfolglos Widerspruch ein und erhoben im Anschluss Klage beim Sozialgericht (SG) Osnabrรผck.
Das Sozialgericht Osnabrรผck gab der Klรคgerin mit Urteil vom 27. April 2023 recht und verpflichtete den Beklagten (hier: die zustรคndige Behรถrde), den GdB rรผckwirkend auf 50 festzustellen. Das Sozialgericht argumentierte, dass bei der Klรคgerin รผber den herkรถmmlichen Therapieaufwand hinausgehende Einschrรคnkungen vorlรคgen und sie in Schule und Freizeit erheblich auf Unterstรผtzung angewiesen sei. Ein Fremdhilfebedarf bestehe in einem Maรe, das fรผr Gleichaltrige untypisch sei. Hieraus leitete das Sozialgericht Osnabrรผck eine โgravierende Beeintrรคchtigung der Lebensfรผhrungโ ab.
Schwerpunkt der erstinstanzlichen Argumentation
Bei Kindern sei zu berรผcksichtigen, dass sie die Therapie nicht selbststรคndig organisieren kรถnnten und stรคndig auf Begleitung angewiesen seien.
Nach dem Sozialgericht Osnabrรผck seien diese Betreuungsleistungen bei Minderjรคhrigen nicht allein durch das Merkzeichen H abgegolten.
Die Eltern trugen vor, dass die Klรคgerin ihre Insulinpumpe nicht eigenstรคndig regle, insbesondere beim Reiten oder beim Besuch von Freunden die Blutzuckerwerte nicht zuverlรคssig kontrolliere und die dauernde รberwachung daher unumgรคnglich sei.
Berufung vor dem Landessozialgericht: Warum wurde das SG-Urteil aufgehoben?
Der Beklagte legte gegen das Urteil des Sozialgerichts Osnabrรผck Berufung beim LSG Niedersachsen-Bremen ein. Er argumentierte, die Voraussetzungen fรผr einen GdB von 50 seien nicht erfรผllt, weil keine schwerwiegenden Stoffwechselschwankungen, Hypoglykรคmien mit Fremdhilfebedarf oder gravierende psychische Probleme vorlรคgen. Auรerdem sei die Klรคgerin in der Lage, am Schulleben teilzunehmen und Sport zu treiben, ohne dadurch sozial beeintrรคchtigt zu sein.
Entscheidung des LSG: GdB 40 bleibt bestehen
Das LSG hob das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. Damit bleibt es bei einem GdB von 40. Die Kernargumente des LSG stรผtzen sich auf folgende รberlegungen:
- Versorgungsmedizinische Grundsรคtze
Teil B Nr. 15 VMG sieht fรผr insulinpflichtige Diabetiker, die mehrfach tรคglich messen und Insulin anpassen mรผssen, einen GdB von 30โ40 vor, sofern keine weitergehenden gravierenden Einschnitte bestehen. Erst wenn besondere Einschrรคnkungen hinzukommen, die รผber den normalen Therapieaufwand hinausgehen, ist ein GdB von 50 gerechtfertigt. - Fehlende schwerwiegende Entgleisungen oder Hypoglykรคmien
Akute Unterzuckerung, die Fremdhilfe erfordert, oder stationรคre Notfรคlle waren bei der Klรคgerin nicht nachweisbar. Auch lรคnger andauernde psychische Probleme wurden nicht bestรคtigt. - Altersbedingter Betreuungsaufwand
Der Umstand, dass ein 9 bis 13-jรคhriges Kind noch nicht eigenstรคndig die gesamte Therapie ausfรผhren kann, wurde vom Gericht als altersgemรครer, wenn auch erhรถhter Bedarf eingestuft. Diese Art Fremdhilfe reicht nicht fรผr die Anerkennung einer gravierenden Beeintrรคchtigung. - Soziale Einbindung und Leistungsfรคhigkeit
Die Klรคgerin ist in der Schule beliebt und zeigt in ihrem Freizeitverhalten keine auffรคlligen sozialen oder psychischen Defizite. Der Leistungssport Reiten, den sie intensiv betreibt, bestรคtigt vielmehr eine gute Integration. - Altersunabhรคngige Bewertung
Die VMG-Werte sind grundsรคtzlich nicht nach Altersgruppen gestaffelt, sofern nicht ausdrรผcklich anders vorgesehen. Ein erhรถhter GdB muss auf einer tatsรคchlich belegten, รผber das รbliche hinausgehenden Teilhabeeinschrรคnkung beruhen.
Das LSG betonte, dass der Fremdhilfebedarf eines Kindes an sich kein ausreichender Grund fรผr die Einstufung mit GdB 50 ist. Eine Verschlechterung oder Ausweitung der Beeintrรคchtigung kรถnnte zwar bei deutlich negativen psychischen Entwicklungen oder bei nachgewiesener sozialer Ausgrenzung eintreten โ doch liege hier kein solcher Fall vor.
Wie wird der GdB bei Diabetes rechtssicher ermittelt?
Rechtsgrundlage fรผr die Bewertung ist ยง 152 SGB IX in Verbindung mit der Versorgungsmedizin Verordnung (VersMedV) und den darin enthaltenen Versorgungsmedizinischen Grundsรคtzen (VMG). Teil B Nr. 15 VMG beschreibt die einschlรคgigen Kriterien speziell fรผr Diabetes mellitus:
GdB 30โ40: รbliche intensivierte Insulintherapie mit mehrmaliger Blutzuckermessung und Dokumentation.
GdB 50: Zusรคtzlich gravierende Einschnitte in der Lebensfรผhrung, etwa infolge schwerer Stoffwechsellagen, hรคufig auftretender kritischer Unterzuckerung oder starker psychischer Belastungen.
Altersunabhรคngig ist in jedem Einzelfall zu prรผfen, ob der Therapieaufwand und die konkreten Gesundheitsrisiken die Lebensfรผhrung in gravierender Weise beschrรคnken. Dabei zieht die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und verschiedener Landessozialgerichte klare Grenzen: รbliche Einschrรคnkungen, die allein aus der regelmรครigen Therapie resultieren, reichen nicht aus, um einen GdB von 50 zu rechtfertigen.
Welche Rolle spielt das Merkzeichen H und warum reicht es nicht fรผr GdB 50?
Das Merkzeichen H (Hilflosigkeit) wird zusรคtzlich zum GdB vergeben, wenn eine Person stรคndig fremder Hilfe bedarf. Bei Kindern mit Diabetes wird dieses Merkzeichen hรคufig bis zum 16. Lebensjahr anerkannt, weil regelmรครige Kontrollen und Insulindosierungen anfallen, die sie noch nicht vollumfรคnglich selbststรคndig vornehmen kรถnnen.
Das LSG stellte klar, dass das Merkzeichen H und der GdB zwei voneinander unabhรคngige Aspekte sind. Ein erhรถhter GdB setzt weitreichendere Einschrรคnkungen in der gesellschaftlichen Teilhabe voraus, als sie allein mit dem Hilfebedarf begrรผndet werden kรถnnen.
Wichtige Fragen rund um die Teilhabebeeintrรคchtigung bei jugendlichen Diabetikern
Ist eine psychische Belastung durch den Diabetes feststellbar, die das Kind stark einschrรคnkt?
Hier ging es um mรถgliche Selbstverletzungen oder anhaltende Verhaltensauffรคlligkeiten. Das Urteil betont, dass eine solche Entwicklung konkret nachzuweisen wรคre.
Schrรคnkt die Erkrankung die sozialen Kontakte ein oder fรผhrt sie zu Ausgrenzung in Schule und Freizeit?
Wenn ein Kind beliebte Freizeitaktivitรคten aufgeben oder soziale Rรผckzรผge hinnehmen mรผsste, kรถnnte dies eine schwerere Teilhabestรถrung begrรผnden. Im vorliegenden Fall betreibt die Klรคgerin intensiv Reitsport und pflegt einen groรen Freundeskreis.
Gibt es hรคufige Krankenhauseinweisungen oder schwere Unterzuckerungen mit Fremdhilfebedarf?
Das LSG sah keine Hinweise auf gravierende stoffwechselbedingte Vorfรคlle, die รผber vereinzelte Schwankungen hinausgehen.
Warum wurde ein GdB von 40 bestรคtigt?
Letztlich verneinte das Gericht eine โgravierende Beeintrรคchtigung in der Lebensfรผhrungโ im Sinne der VMG. Weder sind รผber das Therapieรผbliche hinausgehende schwere Entgleisungen dokumentiert, noch leidet die Klรคgerin erkennbar unter psychischen oder sozialen Problemen.
Das Risiko kรผnftiger Schwierigkeiten (z. B. Pubertรคtsprobleme oder mangelnde Therapie-Compliance) rechtfertigt keine vorbeugende Hรถherstufung.
Im Ergebnis bleibt es bei dem vom Beklagten festgestellten GdB von 40 und dem Merkzeichen H. Das Urteil des Sozialgerichts Osnabrรผck, das einen GdB von 50 annahm, wurde aufgehoben. Die Kosten des Verfahrens werden nicht erstattet. Eine Revision ist jedoch zugelassen, sodass eine hรถchstrichterliche รberprรผfung durch das Bundessozialgericht mรถglich wรคre.
Anmerkung Detlef Brock
Die Rechtsauffassung des LSG Niedersachsen hat das BSG mit Urteil vom 12.12.2024 – B 9 SB 2/24 R – bestรคtigt.
Nach Auffassung des BSG gilt:ย Kein GdB 50 bei Diabetes Typ 1 im Kindesalter ohne erhebliche Teilhabebeeintrรคchtigungen
Das Bundessozialgericht gibt aber im Urteil einen entscheidenen Hinweis:
Eine dauernde elterliche Begleitung und รberwachung minderjรคhriger Diabetespatienten kann im Einzelfall trotzdem einen hรถheren GdB bedingen.
1. wenn sie nachweisbar die Integrationsfรคhigkeit des Kindes erheblich beeintrรคchtigt, etwa weil sie es in eine Sonderstellung bringt, die sich negativ auf seine psycho-emotionale Entwicklung auswirkt (vgl SG Hamburg Gerichtsbescheid vom 13.6.2023 – S 54 SB 35/23 –
2. oder notwendige nรคchtliche Blutzuckerkontrollen der Eltern seinen Schlaf in teilhaberelevanter Weise stรถren (vgl Lorenz in Nieder/Rieck/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschรคtzen und beurteilen, Kommentar zur VersMedV, 2. Aufl 2024, S 247).
Dadurch verursachte zusรคtzliche Einschnitte in der Lebensfรผhrung mรผssen allerdings ausreichend gewichtig sein, um bei der Bewertung des GdB fรผr Diabetes das รberschreiten der Schwelle zur Schwerbehinderung rechtfertigen zu kรถnnen.
Insoweit wรคre zur Kontrolle fรผr die Maรstabsbildung der Vergleich zu den Teilhabebeeintrรคchtigungen anderer Behinderungen heranzuziehen, fรผr die im Tabellenteil der VMG ein Wert von 50 fest vorgegeben ist (vgl BSG Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – ).