Schwerbehinderung: Wegweisendes Urteil – Selbsbestimmung wichtiger als Kosten

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Die Sozialgerichtsbarkeit in Bayern hat kรผrzlich eine weitreichende Entscheidung getroffen (AZ:S 48 SO 131/23 ER) Einer jungen Erwachsenen mit Pflegegrad 4, die bisher in einer stationรคren Einrichtung lebte, wird gestattet, in eine eigene Mietwohnung zu ziehen und dafรผr umfangreiche ambulante Hilfen zu erhalten.

Damit wird bekrรคftigt, dass hรถhere Kosten nicht automatisch den Ausschlag geben dรผrfen, um selbstbestimmtes Wohnen zu verwehren.

Kurze Zusammenfassung der Kernaussage

Das Sozialgericht erkannte, dass eine Person mit Behinderung nicht auf eine stationรคre Einrichtung verwiesen werden darf, nur weil dort die Versorgung gรผnstiger ist. Die gesetzlichen Regelungen im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) rรคumen Menschen mit Behinderung ausdrรผcklich das Recht ein, auรŸerhalb spezieller Wohnformen zu leben.

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK) unterstรผtzt diese Rechtsauffassung: Danach darf niemand gezwungen werden, in einer besonderen Einrichtung zu bleiben, wenn er lieber selbststรคndig wohnen mรถchte.

Worum es konkret ging

Auslรถser des Verfahrens: Die Antragstellerin, Jahrgang 1997, hat eine Cerebralparese und ist seit ihrer Kindheit in stationรคren Einrichtungen untergebracht. Ihr Pflegegrad 4 bescheinigt einen hohen Assistenzbedarf. Im Frรผhjahr 2023 kรผndigte sie an, kรผnftig eine eigene Wohnung beziehen zu wollen.

Das zustรคndige Sozialamt lehnte den Antrag auf Leistungen der hรคuslichen Pflege und Eingliederungshilfe zunรคchst mit der Begrรผndung ab, der geplante ambulante Hilfebedarf sei teurer als ein Verbleib in der bisherigen Einrichtung.

Da der Umzug und die benรถtigte Assistenz dringend organisiert werden mussten, bemรผhte sich die Antragstellerin im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens um eine schnelle Entscheidung.

Dieses Verfahren ist ein klassisches Beispiel dafรผr, wie individuelle Wรผnsche und die gesetzliche Pflicht zur Kostenbegrenzung in Konflikt geraten kรถnnen. Das Gericht entschied zugunsten der Selbstbestimmung.

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Gerichtlicher Beschluss im Detail

Die Sozialrichter stellten fest, dass Menschen mit Behinderung frei wรคhlen sollen, wo sie leben. Sie verwiesen dafรผr auf ยง 104 SGB IX, der die persรถnliche Lebensfรผhrung in einer selbst gewรคhlten Wohnform schรผtzt. Hinzu kommt Artikel 19 der UNBRK.

Nach dieser vรถlkerrechtlichen Vereinbarung mรผssen Staaten wirksame MaรŸnahmen treffen, damit Menschen mit Behinderung mรถglichst selbststรคndig in der Gemeinschaft leben und dabei passende Unterstรผtzung erhalten kรถnnen.

Aus Sicht des Gerichts hat die Antragstellerin einen berechtigten Anspruch auf ambulante Leistungen. Hรถhere Kosten als in einer stationรคren Einrichtung reichen nicht aus, um den Antrag abzulehnen.

Entscheidend ist, dass die beantragte Unterstรผtzung den tatsรคchlichen Bedarf abdeckt und die Betroffene in ihren eigenen vier Wรคnden leben kann. Die Richter sahen auch keinen Anhaltspunkt, dass die veranschlagten Kosten fรผr den beauftragten Pflegedienst รผberhรถht wรคren.

Rechtlicher Rahmen und Begrรผndung

  1. Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
    Regelt Leistungen der Eingliederungshilfe.
    ยง 104 SGB IX stellt klar, dass die Wรผnsche von Leistungsberechtigten beachtet werden mรผssen, sofern dadurch ihr Unterstรผtzungsbedarf sinnvoll gedeckt ist.
  2. Grundsatz der Wahlfreiheit
    Das Gesetz strebt an, Menschen mit Behinderungen ein eigenverantwortliches Leben auรŸerhalb spezieller Einrichtungen zu ermรถglichen. Der Staat darf niemanden verpflichten, in einem Heim zu bleiben, wenn Alternativen bestehen.
  3. UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK)
    Sie garantiert, dass Menschen mit Behinderung selbst bestimmen, wo und mit wem sie leben. Deutschland hat dieses Abkommen ratifiziert. Damit ist es auch hierzulande verbindlich.
  4. Kein allgemeiner Kostenvorbehalt
    Das Gericht betonte, dass die bloรŸe Kostensteigerung kein hinreichender Ablehnungsgrund ist, wenn eine vergleichbare Versorgung auรŸerhalb einer Einrichtung gewรผnscht wird.

Stationรคre Pflege ist strukturell anders konzipiert als ambulante Unterstรผtzung in einer Privatwohnung. Ein direkter Kostenvergleich greift daher zu kurz.

Diese Argumentation belegt, dass das Beharren auf gรผnstigeren Gesamtkosten nicht die einzige Dimension ist. Im Vordergrund stehen die Selbstbestimmung und die soziale Teilhabe der Betroffenen.

Vorteile fรผr Betroffene

Viele Familien, Betreuerinnen und Betreuer wissen nicht, wie aussichtsreich ein Antrag auf ambulante Hilfen sein kann, wenn ein Angehรถriger mit Behinderung aus einer Einrichtung ausziehen mรถchte. Das Urteil zeigt:

Diese Entscheidung stรคrkt die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung, indem sie mehr Raum fรผr individuelle Lebensplanung erรถffnet. Sie schafft Klarheit รผber Rechtsansprรผche, da selbst bei hรถherem Unterstรผtzungsbedarf niemand befรผrchten muss, gegen seinen Willen in einer stationรคren Wohnform zu verbleiben.

Wichtige Punkte fรผr die Praxis

Angehรถrige und Betroffene sollten sich rechtzeitig รผber passende Pflegedienste, Finanzierungsmรถglichkeiten und Wohnungsanpassungen informieren, um realistische Kostenvoranschlรคge erstellen zu kรถnnen.

Bei umfangreicher Assistenz sollte man einen Gesamtplan erstellen, damit individuelle Teilhabeziele definiert werden kรถnnen โ€“ das hilft bei Verhandlungen mit dem Kostentrรคger. Eine sorgfรคltige Dokumentation, die aufzeigt, wie Pflege und soziale Teilhabe im Alltag gestaltet werden, erleichtert schlieรŸlich die Bewilligung.

Wenn das zustรคndige Sozialamt ablehnt, ist ein Widerspruch oder der Gang zum Sozialgericht mรถglich. Das jetzige Urteil bestรคtigt, dass Gerichte die Argumente zur Kostenbegrenzung genau prรผfen mรผssen.

Was das Urteil fรผr die Zukunft bedeutet

Die Entscheidung zeigt, dass Sozialรคmter bei Antrรคgen auf ambulante Hilfe zukรผnftig genauer hinschauen mรผssen. Wir rechnen damit, dass weitere Menschen mit Behinderung diesen Rechtsweg beschreiten werden, wenn sie in private Wohnverhรคltnisse wechseln mรถchten.

Allerdings wirft das auch Fragen nach der Finanzierbarkeit und dem Personalmangel im Pflegebereich auf. Diese Punkte kann das Sozialgericht nicht lรถsen. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sowohl die Kosten fรผr die Gesellschaft tragbar bleiben als auch die Ansprรผche von Menschen mit Behinderung erfรผllt werden.