Im Jahr 2023 offenbarten Analysen, dass nahezu die Hälfte der insgesamt 4,3 Millionen ausgezahlten Witwen und Witwerrenten in Deutschland durch die Anwendung der Einkommensanrechnung gekürzt wurde.
Diese Maßnahme führt zu einer spürbaren Reduzierung der monatlichen Zahlungen, was besonders jene Betroffene in eine prekäre finanzielle Lage bringt, die auf diese Renten als wesentliche Lebensgrundlage angewiesen sind.
Zwei Millionen Rentner betroffen
Die Effekte der Einkommensanrechnung betreffen etwa zwei Millionen Rentenempfänger. Neben der administrativen Komplexität zeigt sich, dass das derzeitige System einen erwerbsfeindlichen Effekt erzeugt. Die Anrechnung von Erwerbseinkommen reduziert den Anreiz, im Beruf aktiv zu bleiben oder zusätzliche Einkünfte zu erzielen.
Experten wie Rechtsanwalt Peter Knöppel, kritisieren, dass diese Regelung nicht nur zu ungerechtfertigten Kürzungen führt, sondern auch die Teilnahme am Arbeitsmarkt nachhaltig beeinträchtigt.
Lesen Sie auch:
- Witwenrente: Dann wird der Vorschuss gezahlt
- Witwenrente gestoppt: Hunderttausende Betroffene erhalten weniger oder keine Hinterbliebenenrente
Wie funktioniert die Einkommensanrechnung?
Die Berechnungsgrundlage der Einkommensanrechnung basiert auf der Anrechnung von zusätzlichem Erwerbseinkommen auf die Hinterbliebenenrente. Hierdurch wird ein Teil des ursprünglichen Rentenbetrags – der ungekürzte Durchschnittswert liegt bei 811 € – reduziert.
Tatsächlich erhalten gekürzte Rentenbezüge im Schnitt lediglich 615 € monatlich, wobei der sogenannte Ruhensbetrag durchschnittlich 172 € ausmacht. Diese systemimmanente Kürzung resultiert in einem Nettoauszahlungsbetrag von rund 728 €, was für viele Betroffene zu einer erheblichen finanziellen Einschränkung führt.
Ein konkretes Rechenbeispiel
Sabine K. bezieht eine Hinterbliebenenrente, deren Höhe durch die Einkommensanrechnung beeinflusst wird. Der Freibetrag für diese Anrechnung entspricht dem 26,4‑fachen aktuellen Rentenwert, der momentan 39,32 € beträgt. Daraus ergibt sich ein Grundfreibetrag von 1.038,05 €.
Da Sabine K. ein Kind hat, das einen Anspruch auf Waisenrente besitzt und sich derzeit in der Ausbildung befindet, erhöht sich der Freibetrag um das 5,6‑fache des Rentenwertes, was einen zusätzlichen Betrag von 220,19 € bedeutet. Somit beläuft sich ihr gesamter Freibetrag auf 1.258,24 €.
Überschreitet das Nettoeinkommen diesen Freibetrag, wird der Differenzbetrag zu 40 % auf die Rente angerechnet. Liegt Sabine K.s Nettoeinkommen beispielsweise bei 1.500 €, so übersteigt dieses den Freibetrag um 241,76 € (1.500 € minus 1.258,24 €).
Von diesem Überschuss werden 40 %, also 96,70 €, auf ihre Hinterbliebenenrente angerechnet, was zu einer entsprechenden Verringerung der Rentenzahlung führt.
Freibeträge wurden in der Vergangenheit moderat angepasst
Im Juli 2024 wurde als Reaktion auf die zunehmende Kritik eine moderate Anpassung der Freibeträge vorgenommen. Der Freibetrag für Witwen und Witwerrenten stieg von rund 993 € auf über 1038 € an, was jedoch nur eine begrenzte Entlastung bietet. Ein geplanter zusätzlicher Sockelbetrag, der die Einkommensanrechnung weiter abschwächen sollte, konnte nicht realisiert werden.
Diese Entwicklungen zeigen, dass trotz vereinzelter Maßnahmen die grundlegenden Herausforderungen im System bestehen bleiben. Politische Umbrüche und die Ungewissheit über zukünftige Reformvorhaben, insbesondere im Hinblick auf mögliche Regierungswechsel, verschärfen die Problematik zusätzlich.
Perspektiven für ein gerechteres Rentensystem
Die derzeitige Praxis der Einkommensanrechnung führt zu einem systematischen Abbau der Hinterbliebenenrenten und stellt zugleich ein Hemmnis für den Verbleib im Erwerbsleben dar.
Die Tatsache, dass Betroffene vor die Entscheidung gestellt werden, entweder ihre Erwerbstätigkeit aufrechtzuerhalten und damit ihre Rente zu reduzieren oder die Arbeitsbelastung zu senken, verdeutlicht den dringenden Reformbedarf.
Ein modernes, transparentes System müsste den Spagat zwischen finanzieller Absicherung und der Förderung von Erwerbstätigkeit neu definieren, um langfristig den sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen gerecht zu werden.