Behördenversagen bei Schwerbehinderung: Betroffene zahlen den Preis – Urteil

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Den Grad der Behinderung (GdB) objektiv festzustellen, ist für Menschen mit Einschränkungen essenziell, denn die Höhe dieses GdB entscheidet darüber, welche Nachteilsausgleiche Betroffene beanspruchen können. Leider lassen die zuständigen Behörden dabei oft nicht die nötige Sorgfalt walten, vernachlässigen ihre Prüfpflichten, und die Betroffenen müssen erst vor das Sozialgericht gehen, um zu bekommen, was ihnen zusteht.

Das Sozialgericht Karlsruhe musste sich mit einem solchen Fall auseinandersetzen. Es stellte klar, dass es sich nicht nur um ein Versagen einzelner Mitarbeiter handelt, sondern um ein strukturelles Fehlhandeln von Verwaltung, staatlichen Institutionen und Gerichten zulasten von Menschen mit Behinderung. (S 12 SB 3113/19)

Höherer Grad der Behinderung verweigert

Der Betroffene beantragte die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung. Das zuständige Versorgungsamt hatte ihm einen GdB von 30 gewährt, doch er war überzeugt, dass seine Einschränkungen wesentlich gravierender seien, als einen solch niedrigen GdB zu rechtfertigen.

Er legte Widerspruch bei der zuständigen Behörde ein. Diese lehnte seinen Widerspruch ab und entschied dafür, allein auf Basis der vorliegenden Unterlagen statt ein eigenes Gutachten einzuholen.

Der Mann ging zum Sozialgericht, um dort seinen Anspruch geltend zu machen.

Die Versorgungsbehörde hat nicht ausreichend ermittelt

Das Sozialgericht Karlsruhe entschied, dass die Versorgungsbehörde ihrer Ermittlungspflicht nicht nachgekommen war. Wenn eine ambulante medizinische Begutachtung notwendig sei, sei es nicht zulässig, über einen Grad der Behinderung allein nach Aktenlage zu entscheiden.

Die Behörde hätte eine umfassende sozialmedizinische Untersuchung durchführen müssen. Sie hätte die Gesamtbeeinträchtigung des Betroffenen nicht ausreichend berücksichtigt und wesentliche Beweise nicht eingeholt, die für die Beurteilung notwendig gewesen wären.

Deshalb verurteilte das Gericht die Versorgungsverwaltung dazu, den Grad der Behinderung neu zu prüfen und dieses Mal die nötigen Beweise objektiv zu ermitteln.

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Systematische Ermittlungsdefizite

Das Gericht ging über den konkreten Fall hinaus und erklärte, die Versorgungsverwaltung in Baden-Württemberg hätte systematische Ermittlungsdefizite, die nicht durch Gerichte ausgeglichen werden dürften. Mit anderen Worten: Das Gericht weigerte sich, Aufgaben zu übernehmen, die Sache der Versorgungsbehörde sind, weil die zuständige Behörde ihre Arbeit nicht macht.

Deswegen weigerte sich das Sozialgericht auch, den Grad der Behinderung des Betroffenen selbst festzustellen, sondern wies die Ermittlung an die zuständige Versorgungsverwaltung zurück.

Sozialgericht gegen Landessozialgericht

Mit der Entscheidung stellte sich das Sozialgericht Karlsruhe auch explizit gegen eine Entscheidung des Landgerichts Baden-Württemberg (L 6 SB 3637/19) an. Denn dieses hatte in einem ähnlichen Fall geurteilt, ohne ein aktuelles medizinisches Gutachten einzuholen.

Die Karlsruher Richter sahen es als rechtswidrig an, wenn ein Gericht ohne ausreichende Beweise und ohne umfassende medizinische Untersuchung über einen Grad der Behinderung entscheidet. Ein GdB könne nicht allein aufgrund der Berufserfahrung der Richter festgestellt werden, sondern benötige eine professionelle medizinische Beurteilung.

Die richterliche Unabhängigkeit dürfe nicht zulasten der Betroffenen gehen, und Sozialgerichte hätten sich an die Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu halten.

Das Gericht machte zudem klar, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt, sondern dass die Versorgungsverwaltung Baden-Württembergs zur Feststellung eines GdB häufig allein nach Aktenlage urteile und keine medizinischen Gutachten einhole.

Wie wird der Grad der Behinderung festgestellt?

Um einen Grad der Behinderung festzustellen, müssen sämtliche Einschränkungen des Betroffenen in ihrer Gesamtheit und ihren Wechselwirkungen erfasst werden, und zwar daraufhin, in welchem Ausmaß sie diesen Menschen daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Was bedeutet das Urteil für Betroffene

Das Sozialgericht Karlsruhe hat klargestellt, dass eine Entscheidung über einen Grad der Behinderung nicht nach einem pauschalen Schema erfolgen darf. Vielmehr ist dafür eine individuelle Prüfung des Einzelfalls notwendig, und zu dieser gehört eine ausreichende medizinische Beurteilung.

Wenn Sie feststellen, dass Ihre spezielle Situation von der Versorgungsbehörde nicht hinreichend ermittelt wurde, medizinische Beurteilungen fehlen, und Sie Ihre Einschränkungen als schlimmer einschätzen, als im festgestellten GdB deutlich wird, dann legen Sie Widerspruch ein.

Wird der Widerspruch abgelehnt, dann gehen Sie gut vorbereitet zum Sozialgericht. Sie haben eine echte Chance, dass ihre Klage zum Erfolg führt.