Bürgergeld: 49-Jähriger soll weiter bei seinen Eltern wohnen

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Ein 49 Jahre alter Bürgergeld-Bezieher aus Reutlingen wohnte mietfrei bei seinen Eltern.

Doch das Zusammenwohnen führte immer wieder zu Spannungen im familiären Zusammenleben. Daher suchte sich der Mann Anfang 2021 eine eigene Unterkunft und beantragte beim Jobcenter die Übernahme der mit dem Umzug verbundenen Kosten.

Das Jobcenter lehnte jedoch ab. Nach Auffassung der Behörde sei die Konfliktsituation innerhalb der Familie kein ausreichender Grund für einen Umzug. Aus Sicht des Jobcenters lag damit keine „Erforderlichkeit“ vor, sodass es die Übernahme der Umzugskosten nicht bewilligen wollte.

Warum sah das Sozialgericht den Auszug dennoch als rechtmäßig an?

Der Streit landete schließlich vor dem Sozialgericht Reutlingen. Hier wurden drei Kriterien geprüft, um festzustellen, ob ein Umzug wirklich notwendig ist:

  1. Es muss ein plausibler Grund vorliegen.
    Ein einfacher Streit mit den Eltern mag in Einzelfällen nicht immer ausreichen. Allerdings ist die Gesamtbewertung entscheidend: Liegt eine andauernde, unzumutbare Konfliktsituation vor?
  2. Der Grund müsste auch eine Person, die keine Leistungen bezieht, zum Umzug veranlassen.
    Würde jemand, der finanziell unabhängig ist, den Auszug ebenfalls als sinnvoll erachten? Oder würde die Person in vergleichbarer Situation eher versuchen, innerhalb des elterlichen Haushalts eine andere Lösung zu finden?
  3. Es darf kein milderes Mittel als ein Umzug zur Verfügung stehen.
    Besteht die Möglichkeit, den Konflikt anders zu lösen? Oder ist ein Auszug tatsächlich die einzig gangbare Lösung?

In diesem konkreten Fall war das Gericht der Meinung, dass die Situation für den 49-Jährigen so belastend und realistisch eingeschätzt werden könne, dass ein Auszug gerechtfertigt ist.

Das Alter des Mannes allein, so die Richter:innen, spreche für das berechtigte Anliegen, endlich einen eigenen Haushalt zu gründen und sich von den Eltern zu lösen. Hinzu kamen die familiären Differenzen, die offenkundig länger bestanden und sich nicht dauerhaft beheben ließen.

Wann gilt eine Wohnung als angemessen?

Für Bürgergeld-Beziehende stellt die Angemessenheit einer Wohnung einen zentralen Punkt dar, da nur dann die Kosten übernommen werden können. Die Angemessenheit bemisst sich üblicherweise nach:

  • Größe: Das Jobcenter legt in der Regel fest, wie viele Quadratmeter einer alleinstehenden Person oder einer Bedarfsgemeinschaft zustehen.
  • Kosten: Mieten dürfen eine bestimmte, regional abhängige Höchstgrenze nicht überschreiten.

Die exakten Grenzwerte variieren je nach Wohnort, weil das Mietniveau in Deutschland nicht einheitlich geregelt ist. Im Fall Reutlingen befand das SG, dass die vom 49-Jährigen gefundene Wohnung sowohl in Bezug auf ihre Größe als auch in Bezug auf die Kosten im Rahmen blieb. Deshalb konnte auch hier kein Ablehnungsgrund konstruiert werden.

Auszug U25

Nach dem Sozialgesetzbuch (SGB II) ist grundsätzlich festgelegt, dass Personen, die jünger als 25 Jahre sind, nur in Ausnahmefällen aus dem Elternhaus ausziehen können, wenn sie dabei auf Leistungen angewiesen sind. Solche Ausnahmen können beispielsweise häusliche Gewalt oder eine berufliche Notwendigkeit sein.

Im vorliegenden Fall war der Leistungsbezieher mit seinen 49 Jahren selbstverständlich weit jenseits dieser Altersgrenze. Somit stand einem eigenständigen Haushalt auch rechtlich nichts im Wege. Trotzdem hatte das Jobcenter zunächst abgelehnt, weil es die Gründe für den Umzug als unzureichend betrachtete.

Gerade diese Begründung wies das Gericht jedoch zurück und betonte, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit, ein Grundrecht aus dem Grundgesetz, hier ebenfalls zu berücksichtigen sei.

Welche Konsequenzen hat das Urteil für künftige Fälle?

Das Urteil des SG Reutlingen ist ein weiterer Hinweis darauf, dass die sozialen Gerichte in der Praxis häufig zugunsten der Bürgergeld-Beziehenden entscheiden, wenn nachvollziehbare Gründe für einen Umzug vorliegen. Dabei wertete das Gericht verschiedene Aspekte – wie Alter, familiäre Situation und zumutbare Alternativen – umfassend aus.

Für viele Betroffene, die ähnliche Auseinandersetzungen mit dem Jobcenter führen, kann dieses Urteil Mut machen:

  • Recht auf Persönlichkeitsentfaltung: Der Auszug aus dem Elternhaus ist nicht nur eine reine Kostenfrage. Er kann – gerade bei langwierigen familiären Konflikten – auch zur Wahrung der eigenen Würde und der psychischen Gesundheit notwendig sein.
  • Nachvollziehbare Begründung: Behörden dürfen Umzugskosten nicht pauschal verweigern. Vielmehr müssen sie die persönliche Situation der Leistungsbeziehenden genau untersuchen und bewerten.

Was ist zu tun, wenn das Jobcenter den Umzug ablehnt?

Wird der Antrag auf Kostenübernahme abgelehnt, kann innerhalb der Frist von 4 Wochen Widerspruch eingelegt werden. Bei einem erneuten negativen Bescheid steht anschließend der Weg vor das Sozialgericht offen.

Natürlich bietet es sich zuvor an, professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen.

Spezialisierte Beratungsstellen oder Anwält:innen für Sozialrecht können einschätzen, ob sich ein Rechtsstreit lohnt. In vielen Fällen führt bereits ein fundierter Widerspruch zur Änderung des ursprünglichen Bescheids.

Widerspruch kann sich lohnen

Viele Entscheidungen der Jobcenter unterliegen einem gewissen Ermessensspielraum. Gerade wenn es um subjektive Aspekte wie familiäre Konflikte, gesundheitliche Belastungen oder besondere soziale Umstände geht, legen Gerichte häufig strengere Maßstäbe an als die Behörden selbst. Ein rechtsstaatliches Grundprinzip besteht darin, dass Behördenentscheidungen nicht willkürlich sein dürfen.

Betroffene sollten daher ihre Rechte kennen und im Zweifelsfall nutzen. Denn wie der Fall aus Reutlingen zeigt, ist es durchaus möglich, dass die Ablehnung durch das Jobcenter nicht vor Gericht Bestand hat.

Wo stehen die Rechte der Bürgergeld-Beziehenden?

Der Reutlinger Fall verdeutlicht, dass die Entscheidung, ob ein Umzug für Bürgergeld-Beziehende erforderlich ist, nicht allein beim Jobcenter liegt. Zwar müssen Leistungsempfänger:innen vor dem Umzug die Zustimmung einholen, doch diese Zustimmung darf nicht pauschal verweigert werden, wenn solide Argumente vorliegen.

Wer also in ähnlicher Lage ist – sei es aufgrund familiärer Probleme, einer zu kleinen Wohnung oder anderer nachvollziehbarer Gründe –, sollte im Zweifel den Widerspruchs- und Klageweg nicht scheuen.

Auch diese Möglichkeit gehört zu den grundrechtlich verankerten Mitteln, um die eigene Lebensführung gegen nicht nachvollziehbare Behördenentscheidungen zu verteidigen. (Az S 3 AS 1494/21 – noch nicht rechtskräftig –)