Bürgergeld: Keine Verfristung des Widerspruchs durch Zeugenbeweis

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Die Widerspruchsbehörde des Jobcenters ist zu Unrecht von einer Verfristung des Widerspruchs ausgegangen, wenn der Bezieher von Bürgergeld anhand von Zeugen den Einwurf in den Haus- Briefkasten glaubhaft machen kann.

Denn der Beweis der Unrichtigkeit der öffentlichen Urkunde “Eingangsstempel der Behörde” kann durch – jedes Beweismittel – geführt werden.

Dem Eingangsstempel des Jobcenters kommt – kein unerschütterlicher Beweiswert – zu, wenn das Jobcenter behauptet, der Widerspruch sei unzulässig, weil die Widerspruchsfrist abgelaufen sei, so aktuell das Landessozialgericht Baden-Württemberg vom 14.03.2025 ( Urteil v. 19.02.2025 – L 2 AS 3159/24 – ).

Bürgergeld-Bezieher kann dem Gericht glaubhaft machen durch Zeugin, dass er das Widerspruchsschreiben ( Brief ) in den Briefkasten des Jobcenters geworfen hat

Hier ist das Gericht aufgrund der persönlichen Anhörung des Klägers und der Vernehmung der Zeugin ( welche im gleichen Haus wohnt wie der Kläger ) und des Zeugen ( Mitarbeiter der Poststelle des Jobcenters ) – zu der Überzeugung gelangt, dass die rechtzeitige Einlegung des Widerspruchs beim Jobcenter nachgewiesen ist.

Eingangsstempel des Jobcenters überzeugt das Gericht nicht

Entgegen der Auffassung des Grundsicherungsträgers /Jobcenter kommt dem Eingangsstempel des Jobcenters kein unerschütterlicher Beweiswert zu, weshalb der Senat nicht gehindert war, die Anhörung des Klägers in Verbindung mit den Zeugeneinvernahmen als mit dem im vorliegenden Fall höheren Beweiswert zu würdigen.

Behördlicher Eingangsstempel mit dem Datumsaufdruck und einem Handzeichen eines Bediensteten ist eine Urkunde

Zutreffend ist, dass ein behördlicher Eingangsstempel mit dem Datumsaufdruck und einem Handzeichen eines Bediensteten grundsätzlich eine öffentliche Urkunde i.S.v. § 418 Abs. 1 Zivilprozessordnung über Wahrnehmungen und Handlungen der Behörde darstellt.

Nach § 418 Abs. 1 Satz 2 ZPO erbringt sie dann den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen. Zwar dokumentiert der Eingangsstempel streng genommen nur, dass ein Bediensteter diesen auf das Schriftstück gesetzt und mit seinem Handzeichen versehen hat.

Wie die höchstrichterliche Rechtsprechung indes anerkennt, erbringt ein solcher Stempel darüber hinaus Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines damit versehenen Schreibens (Bundesgerichtshof, Urteil vom 31.05.2017 – VIII ZR 224/16 – NJW 2017, 2285; vgl. auch BSG, Beschluss vom 09.03.2011 – B 4 AS 60/10 BH – ).

Dies unterstellt allerdings eine Organisation behördeninterner Abläufe, die sicherstellt, dass der Stempel die tatsächlichen Geschehnisse wahrheitsgetreu widerspiegelt.

§ 418 Abs. 2 ZPO lässt einen Beweis der Unrichtigkeit des Eingangsstempels als öffentliche Urkunde zu

Die Anforderungen an diesen Gegenbeweis dürfen nicht überspannt werden, denn der Rechtsmittelführer befindet sich insoweit regelmäßig in Beweisnot, weil er interne Vorgänge nicht kennen kann (vgl. BSG, Beschluss vom 08.02.2012 – B 5 RS 76/11 B – ).

Der Beweis der Unrichtigkeit der öffentlichen Urkunde “Eingangsstempel der Behörde” kann durch jedes Beweismittel geführt werden.

Im vorliegenden Fall sieht der Senat diesen Gegenbeweis als geführt an.

1. Es steht schon nicht zweifelsfrei fest, dass der angebrachte Eingangsstempel auf dem Widerspruchsschreiben des Klägers (ein Handzeichen eines Mitarbeiters des Jobcenters ist auf dem Stempelaufdruck nicht erkennbar) tatsächlich Auskunft darüber gibt, wann das Schriftstück eingegangen ist und damit, ob er überhaupt die Anforderungen an eine öffentliche Urkunde erfüllt.

Über einen Nachtbriefkasten, der gewährleisten soll, dass vor 0:00 Uhr eingegangene Schriftstücke mit dem tatsächlichen Einwurf-Tagesdatum gestempelt werden, verfügt das JC nicht.

Er behilft sich damit, die bei einer morgendlichen Leerung um bzw. bis 07:00 Uhr entnommene Post mit dem Datum des Vortages zu stempeln, auch wenn sie tatsächlich nach 24:00 Uhr eingeworfen wurde. Damit würde nach der letzten Leerung am 20.01., am 21.01., am 22.01. sowie am 23.01. vor der ersten Leerung bis 07:00 Uhr eingegangene Post – unzutreffend – noch mit dem 20.01. gestempelt.

Die vom Jobcenter angewandte Verfahrensweise erbringt daher nicht in jedem Fall den Nachweis für den Zeitpunkt des Eingangs, sondern ist in diesem Fall unrichtig (vgl. Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 03.08.2005 – 7 K 318/02 -).

2. Es existiert soweit ersichtlich auch keine umfassende Verschriftlichung der beim Jobcenter regelmäßig zu beachtenden Vorgehensweise, wie sie vom Beklagten nach dessen Einlassungen gehandhabt wird.

Die Verschriftlichung der Organisation behördeninterner Abläufe dürfte für deren Nachvollziehbarkeit und der Sicherstellung einer gleichförmigen Handhabung aber unerlässlich sein, zumal dann, wenn von diesem Behördenhandeln Rechtswirkungen und Rechtsansprüche Dritter abhängig sind.

Fazit

1. Keine Verfristung eines vom Leistungsbeziehers eingelegten Widerspruchs, wenn dieser mit Hilfe von Zeugen den Einwurf seines Widerspruchs glaubhaft machen kann.

2. Dem Eingangsstempel des Jobcenters kommt – kein unerschütterlicher Beweiswert – zu, wenn das Jobcenter behauptet, der Widerspruch sei unzulässig, weil die Widerspruchsfrist abgelaufen sei.

Praxistipp

Keine Verpflichtung des Jobcenters, auf den an den Leistungsbezieher gerichteten bloßen Anschreiben sowohl den Poststempel als auch das Ausdruckdatum zu vermerken ( LSG Baden-Württemberg, Urt. v. 01.07.2024 – L 3 AS 848/24 – ).

Bürgergeld: Ist das Jobcenter verpflichtet Poststempel und Ausdruckdatum zu vermerken?