Das Bundessozialgericht (BSG) hat entschieden (Az.: B 4 AS 4/23 R), dass die sogenannte „Angemessenheitsfiktion“ für Unterkunfts- und Heizkosten gemäß § 67 Abs. 3 SGB II im gesamten Zeitraum der Pandemie Anwendung findet. Dies betrifft alle Bewilligungszeiträume, die zwischen März 2020 und Dezember 2023 begonnen haben.
Die Kernaussage des Urteils ist, dass während dieser Zeit die Unterkunftskosten pauschal als angemessen galten, sofern diese nicht rechtsmissbräuchlich in unverhältnismäßig hohe Höhen getrieben wurden. Ein Zustimmungserfordernis des Jobcenters zur Anmietung neuer Wohnungen gemäß § 22 Abs. 4 SGB II war demnach nicht notwendig.
Welche Auswirkungen hat die Angemessenheitsfiktion?
Die Angemessenheitsfiktion besagt, dass die tatsächlichen Unterkunftskosten im genannten Zeitraum als angemessen gelten, unabhängig von ihrer tatsächlichen Höhe. Somit sind Kürzungen der Unterkunftskosten durch Jobcenter oder Sozialämter, die auf einer behaupteten Unangemessenheit basierten, grundsätzlich rechtswidrig. Dies gilt insbesondere in folgenden Fällen:
- Fehlende Zustimmungserfordernisse bei Umzügen: Es war keine vorherige Zustimmung des Jobcenters erforderlich, da die Kosten automatisch als angemessen galten.
- Keine Kostensenkungsverfahren: Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II dürfen Kürzungen der Unterkunftskosten nur nach einem durchgeführten Kostensenkungsverfahren erfolgen. Da dies oft unterblieb, sind solche Kürzungen rechtswidrig.
- Rückwirkende Begrenzungen: Fälle, in denen Kosten anfangs für sechs Monate übernommen, später jedoch ohne Kostensenkungsverfahren gekürzt wurden, sind ebenfalls unzulässig.
Wer ist betroffen?
Das Urteil betrifft Leistungsempfängerinnen und -empfänger des SGB II („Hartz IV“) sowie des SGB XII (Sozialhilfe). Die Regelungen gelten darüber hinaus auch für Personen, die sogenannte Analogleistungen nach § 2 AsylbLG erhalten.
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Welche Rechtsgrundlagen sind relevant?
Die wesentlichen rechtlichen Grundlagen für die Entscheidung des BSG sind:
- § 67 Abs. 3 SGB II: Dieser regelt die Angemessenheitsfiktion im Kontext der Covid-19-Pandemie.
- § 22 Abs. 4 SGB II: Zustimmungserfordernis des Jobcenters bei Umzügen.
- § 22 Abs. 1 Satz 7 SGB II: Erforderlichkeit eines Kostensenkungsverfahrens vor einer Begrenzung der Unterkunftskosten.
- § 141 Abs. 3 SGB XII: Gleichwertige Regelung der Angemessenheitsfiktion im Bereich der Sozialhilfe.
Gibt es Unterschiede zwischen SGB II und SGB XII?
Das Urteil des BSG hat dieselbe Wirkung für beide Rechtsbereiche, da die Angemessenheitsfiktion in identischer Form auch im SGB XII verankert war. Die Rechtsprechung des BSG im SGB II wird bei ähnlicher Gesetzeslage auch im SGB XII angewandt. Dies wurde bereits in früheren Urteilen bestätigt (z. B. BSG 23.03.2010 – B 8 SO 24/08 R).
Welche Schritte können Betroffene jetzt unternehmen?
Betroffene können rückwirkend eine Korrektur unzulässiger Kürzungen der Unterkunftskosten beantragen.
- Prüfung des Leistungszeitraums:
- Liegt der Bewilligungszeitraum zwischen März 2020 und Dezember 2023?
- Wurden Unterkunftskosten wegen Unangemessenheit gekürzt?
- Stellung eines Überprüfungsantrags:
- Gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II bzw. § 116a Satz 1 Nr. 2 SGB XII können Überprüfungsanträge rückwirkend nur bis Januar 2024 gestellt werden.
- Dies betrifft auch Kürzungen, die auf Urteilen von Landessozialgerichten (z. B. LSG Niedersachsen-Bremen oder LSG NRW) basierten, die die Angemessenheitsfiktion missachtet haben.
- Beratung in Anspruch nehmen:
- Rechtsanwälte, Sozialberatungsstellen oder Gewerkschaften können bei der Durchsetzung der Ansprüche unterstützen.
Welche Konsequenzen hat das Urteil für die Behörden?
Das Urteil offenbart gravierende Verstöße gegen geltendes Recht. Viele Jobcenter und Sozialämter haben die Angemessenheitsfiktion systematisch ignoriert und rechtswidrige Kürzungen vorgenommen. Auch Landessozialgerichte haben durch behördenfreundliche Entscheidungen den Boden für diese Rechtsverstöße bereitet.
Eine automatische behördeninterne Korrektur hat bislang nicht stattgefunden, weshalb Betroffene ihre Ansprüche aktiv geltend machen müssen.
Der Verein “Tacheles e.V.” hat Vordrucke bereit gestellt, die man hier herunterladen kann.
Fazit: Warum sollten Betroffene jetzt handeln?
Das BSG-Urteil schafft die Grundlage, um rückwirkend unzulässige Kürzungen der Unterkunftskosten anzufechten. Betroffene sollten schnell handeln, da die Möglichkeit der Rückforderung nur bis Januar 2024 besteht. Eine professionelle Rechtsberatung kann dabei helfen, Ansprüche erfolgreich durchzusetzen und finanzielle Verluste auszugleichen.
- Über den Autor
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Carolin-Jana Klose ist seit 2023 Autorin bei Gegen-Hartz.de. Carolin hat Pädagogik und Sportmedizin studiert und ist hauptberuflich in der Gesundheitsprävention und im Reha-Sport für Menschen mit Schwerbehinderungen tätig. Ihre Expertise liegt im Sozialrecht und Gesundheitsprävention. Sie ist aktiv in der Erwerbslosenberatung und Behindertenberatung.