Das Sozialgericht Hamburg lehnte es ab, einem von Autismus Betroffenen im Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung anzuerkennen, weil dieser unbeaufsichtigt im Straßenverkehr sich und andere gefährdet. (S12 SB 518/15)
Schwerbehinderung mit Merkzeichen B, H und G
Der Betroffene hat seit 2003 einen Grad der Behinderung von 70, und im Schwerbehindertenausweis außerdem die Merkzeichen B (Berechtigung zur ständigen Begleitung) und H (Hilflosigkeit). Die Ursache ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung. Seit 2014 beträgt sein Grad der Behinderung nach einem Neufeststellungsantrag 100, und er hat seitdem zudem das Merkzeichen G für eine erhebliche Gehbehinderung.
In einem weiteren Neufeststellungsantrag beantragte er 2015 auch noch das Merkzeichen aG für eine außergewöhnliche Gehbehinderung.
Was bedeutet „außergewöhnliche Gehbehinderung”?
Das Merkzeichen aG für „außergewöhnliche Gehbehinderung“ setzt voraus, dass ihr Gehvermögen sehr stark beeinträchtigt. Außerhalb eines Kraftfahrzeugs können Sie sich nur mit fremder Hilfe oder mit großen Mühen bewegen. Neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Multipler Sklerose berechtigen zu diesem Merkzeichen bei schweren Auswirkungen. Das gilt auch bei enormen Störungen des Herzkreislaufs und des Atmungssystems.
Druck infolge autistischer Erkrankung
Grundlage dafür, das Merkzeichen aG zu begehren, war in diesem Fall eine Stellungnahme des zuständigen Kinder- und Jugendpsychiaters. Dieser erörterte, der Betroffene sei aufgrund seiner autistischen Erkrankung massivem Druck ausgesetzt, wenn er Dinge nicht verstehe. Er schmeiße sich dann zum Beispiel auf den Boden und lasse sich nicht aufheben. Auf Fußwegen werde er bisweilen sehr aggressiv und betrete dann unmittelbar die Fahrbahn.
Jederzeit bestehe die Gefahr, dass er weglaufe und sich dadurch erheblich in Gefahr bringe. Das Merkzeichen aG sei notwendig, um die Zeit von der Wohnung zum Auto zuverlässig zu verkürzen.
Die Versorgungsbehörde holte eine Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes ein, las den Befundbericht und prüfte ein Pflegegutachten des Betroffenen. Sie stellte weiterhin einen Grad der Behinderung von 100 fest sowie die Merkzeichen G,B und H. Zudem erhielt der Betroffene das Merkzeichen RF (Ermäßigung der Rundfunkgebühr). Voraussetzungen für das Merkzeichen aG seien aber nicht gegeben, so die Behörde.
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Widerspruch und Klage sind erfolglos
Nachdem ein Widerspruch des Betroffenen bei der Versorgungsbehörde zurückgewiesen worden war, erhob dieser Klage vor dem Sozialgericht, um das Merkzeichen aG zu erhalten. Die Begründung lautete, er sei außergewöhnlich gehbehindert, weil er sich wegen der Schwere seines Leidens nur mit fremder Hilfe fortbewegen könne. Seine Gehfähigkeit sei ebenso körperlich wie geistig eingeschränkt.
Vor Gericht schilderte sein Vater (und zugleich Betreuer) das Verhalten des Betroffenen. Würde der Vater das Auto wegen Mangels an Parkplätzen in Distanz zum geplanten Ziel parken, würde der Sohn zunehmend aggressiv und laufe auch weg. Dies geschehe zum Beispiel, wenn er statt nahe beim Schwimmbad weiter entfernt bei einem Supermarkt parke.
Die Versorgungsbehörde begründete, warum sie das Merkzeichen außergewöhnliche Gehbehinderung nicht für gerechtfertigt hielt. So zeigten die Befundberichte deutlich, dass der Betroffene den ganzen Tag herumlaufe. Es liege also keine relevante motorische Störung vor. Diese sei aber Grundlage für die Feststellung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung. Das Gericht schloss ebenfalls eine Feststellung des Merkzeichens aG aus.
Keine Störung der Mobilität
Es erklärte: „Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen.“
Der Kläger habe keine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von 80 entspreche. Er sei fähig, ständig umherzulaufen. Es liege keine Störung bewegungsbezogener mentaler Funktion vor.
Er sei nicht in der Lage, am Straßenverkehr teilzunehmen, ohne sich und andere zu gefährden. Deshalb seien zu Recht die Merkmale erhebliche Gehbehinderung und Berechtigung zur Begleitung festgestellt worden. Das Recht auf einen Behindertenparkplatz durch das Merkzeichen aG helfe ihm aber nicht, ungefährdet sein Ziel zu erreichen. Auch auf einem verkürzten Weg müsse er nämlich überwacht und geleitet werden.
Das Gericht schloss: „Bei allem Verständnis für die schwierige Situation der Betreuer des Klägers kann es nicht Aufgabe der Gerichte sein, durch die über den Wortlaut der gesetzlichen Regelung hinausgehende Auslegung des § 146 3 dazu beizutragen, dass der begrenzte Parkraum für alle Behinderte innerhalb einer Großstadt, noch geringer wird, wenn weitere Personenkreis in den Nachteilsausgleich mit aufgenommen werden.“