Schwerbehinderung: Gericht zwang zu höheren Mietzahlungen – grundsätzliches Urteil

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Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat in einem Eilverfahren (AZ: L 13 AS 185/23 B ER) klargestellt, dass das Jobcenter die Kosten für eine barrierefreie Wohnung übernehmen muss, auch wenn die Miete über der üblichen Angemessenheitsgrenze liegt.

Ausschlaggebend war die besondere Lebenssituation einer alleinstehenden Mutter und ihrer fünf Kinder, darunter ein Sohn mit Schwerbehinderung und Rollstuhlbedarf.

Hintergrund: Familiäre Belastung durch unpassende Wohnung

In dem verhandelten Fall bezog eine 1976 geborene Frau aus Bremen gemeinsam mit ihren fünf Kindern (9 bis 22 Jahre) Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Familie lebte in einer 83 Quadratmeter großen Vierzimmerwohnung im ersten Stock, ohne Aufzug und ohne barrierefreien Zugang.

Da der älteste Sohn im Rollstuhl sitzt und zusätzlich auf personelle Hilfe angewiesen ist, war jeder Wohnungsaustritt ein enormer Kraftakt. Das bestehende Wohnumfeld erlaubte ihm faktisch keine regelmäßige Teilhabe am sozialen Leben.

Bestätigung der besonderen Umstände

Das zuständige Jugendamt (Amt für Soziale Dienste) hielt eine geräumigere und rollstuhlgerechte Wohnung bereits seit Längerem für notwendig.
Hausärztliche Atteste bekräftigten, dass der Sohn auf eine ebenerdige und barrierefreie Wohnung angewiesen ist.
Auch die Zentrale Fachstelle Wohnen (zuständig für Wohnungssuchende in besonderen Notlagen) unterstützte den Umzugswunsch ausdrücklich.

Erstes Mietangebot und Zusicherung: Warum es trotzdem nicht zum Einzug kam

Zunächst erhielt die Familie im November 2022 das Angebot einer rollstuhlgerechten Fünfzimmerwohnung mit rund 144 Quadratmetern, ebenfalls von der Wohnungsbaugesellschaft J. Der Antragsgegner (Jobcenter Bremen) war bereit, die Bruttokaltmiete bis zu einer definierten Grenze (1.353 Euro) zu übernehmen und bestätigte dies schriftlich.

Zu einer Anmietung kam es dennoch nicht, weil die Wohnung im konkreten Fall vor Vergabe bereits anderweitig belegt war. Im Juni 2023 erschien eine weitere Option: eine Neubauwohnung mit 93,4 Quadratmetern im Erdgeschoss. Auch für dieses Angebot erteilte das Jobcenter eine vorläufige Zusicherung.

Allerdings galt die Wohnung lediglich als „Notlösung“, da die Küche als Durchgangszimmer ausgestaltet war und somit nur drei vollwertige Schlafzimmer zur Verfügung standen. Für eine sechsköpfige Familie bedeutete das weiterhin eine unzureichende Aufteilung.

Aktuelles Angebot: Barrierefreiheit, aber höhere Kosten

Schließlich legte dieselbe Wohnungsbaugesellschaft J. im Juli 2023 erneut ein Mietangebot für eine rollstuhlgerechte Fünfzimmerwohnung mit einer Fläche von 144 Quadratmetern vor. Die anfängliche Bruttokaltmiete lag bei 1.713,60 Euro, also deutlich über der Angemessenheitsgrenze für einen Haushalt mit sieben zu berücksichtigenden Personen (hier: Mutter plus fünf Kinder, wobei das behinderte Kind die Personenzahl faktisch erhöht).

Nachdem die Familie eine Reduzierung erwirkte, sank die Bruttokaltmiete schließlich auf 1.425,60 Euro – immer noch über dem offiziell zulässigen Richtwert von 1.353 Euro, aber deutlich kostengünstiger als anfangs.

Trotz dieser Absenkung auf 1.425,60 Euro lehnte das Jobcenter die verbindliche Zusicherung weiterhin ab. Es verwies darauf, dass sich die Miete noch immer oberhalb der Grenze befinde und argumentierte zudem mit angeblich nicht ausreichend belegten Wohnungssuchbemühungen der Mutter in der Vergangenheit.

Gerichtliche Schritte: Ablehnender erstinstanzlicher Beschluss und Beschwerde

Die Mutter stellte beim Sozialgericht (SG) Bremen einen Eilantrag auf Übernahme der höheren Mietkosten. Das SG wies diesen Antrag im August 2023 ab. Dabei verwies es auf die Überschreitung der Richtwerte sowie auf die Möglichkeit, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Gegen diese Entscheidung legte die Familie Beschwerde beim Landessozialgericht NiedersachsenBremen ein. Sie machte geltend, dass der Sohn auf eine geeignete Rollstuhlwohnung angewiesen sei und derartige Angebote auf dem angespannten Wohnungsmarkt praktisch nicht zur Verfügung stünden.

Auch eine mehrjährige Suche und die Begleitung durch die Zentrale Fachstelle Wohnen belegten, dass behindertengerechte Wohnungen in dieser Größe nur selten erscheinen.

Entscheidung des LSG: Jobcenter muss die Zusicherung erteilen

Das Landessozialgericht hob den ablehnenden Beschluss des Sozialgerichts auf und verpflichtete das Jobcenter, die Kostenübernahme für die barrierefreie Wohnung zuzusichern. Zur Begründung führten die Richterinnen und Richter an, dass höhere Aufwendungen dann angemessen sind, wenn die üblichen Richtwerte auf dem realen Wohnungsmarkt nicht einhaltbar sind – insbesondere bei einer Familie mit einem schwerbehinderten Rollstuhlfahrer.

In der Praxis komme es wegen der Größe des Haushalts und der speziellen Anforderungen (barrierefrei, ausreichend Platz für Pflege und Mobilitätshilfen) zu einer erheblichen Verknappung möglicher Wohnungen.

Laut Verwaltungsanweisung zu § 22 SGB II (Ziffer 7 C 3) ist die tatsächliche Miete für Rollstuhlnutzer anzuerkennen, falls der Zugang zum Wohnungsmarkt derart eingeschränkt ist, dass faktisch keine kostengünstigere Wohnung verfügbar ist.

Warum vergangene Suchbemühungen keine Rolle spielen

In Bezug auf das Argument, die Mutter habe zuvor ein geeigneteres Angebot abgelehnt, stellte das LSG klar, dass Leistungsansprüche nach dem SGB II nicht aufgrund früherer Versäumnisse entfallen dürfen. Entscheidend ist, dass der schwerbehinderte Sohn nicht dauerhaft von einer angemessenen Wohn und Lebenssituation ausgeschlossen werden darf. Eine Verweisung der Familie auf eine zu kleine oder anderweitig ungeeignete Wohnung sei unzumutbar.

Praktische Folgen für Betroffene: Worauf kommt es bei hohen Unterkunftskosten an?

Barrierefrei heißt nicht automatisch angemessen
Es ist zu prüfen, ob wirklich keine kostengünstigere, geeignete Wohnung zu finden ist. Bei Behinderungen oder Pflegebedarfen steigen oft die Anforderungen an die Wohnraumausstattung.

Keine Kürzungen aufgrund angeblicher Versäumnisse
Die Vergangenheit der Wohnungssuche spielt nur eine untergeordnete Rolle, wenn die behinderte Person andernfalls in einer für sie unzumutbaren Umgebung bleiben müsste.

Eilrechtsschutz kann die Hauptsache vorwegnehmen
In besonders dringlichen Fällen – etwa wenn eine Wohnung kurzfristig verfügbar ist – kann das Gericht bereits im Eilverfahren eine endgültige Entscheidung treffen und das Jobcenter zur Kostenübernahme verpflichten.