Schwerbehinderung: Rückwirkende Senkung des Grades der Behinderung? Grundsatzurteil

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Das Bundessozialgericht (BSG) setzte mit seinem Grundsatzurteil  (Az: B 9 SB 3/20 R) klare Grenzen für Versorgungsämter. Die Entscheidung verbietet rückwirkende Kürzungen des Grades der Behinderung (GdB) und verlangt von Behörden nachweisbare Gesundheitsverbesserungen für zukünftige Herabsetzungen.

Verhandelt wurde die Frage, ob ein GdB von 50 auf 20 reduziert werden darf– trotz anhaltender gesundheitlicher Einschränkungen.

Medizinische Prognosen versus behördliche Praxis

Bei Erkrankungen mit unsicherer Heilungstendenz sehen Versorgungsämter häufig Bewährungsfristen von zwei bis fünf Jahren vor. Das BSG präzisiert, dass nach Ablauf dieser Fristen keine automatische Herabsetzung des GdB erfolgen darf.

Stattdessen müssen Behörden durch aktuelle medizinische Gutachten belegen, dass konkrete und dauerhafte Verbesserungen des Gesundheitszustands eingetreten sind.

Ein Praxisbeispiel zeigt die Tragweite dieser Regelung:
Bei einer Patientin reduzierte das Versorgungsamt 2022 den ursprünglich festgesetzten GdB von 50 auf 20, obwohl neue Einschränkungen diagnostiziert worden waren. Das Gericht kippte diese Entscheidung, da die Behörde aktuelle Befunde nicht ausreichend berücksichtigt hatte.

Solche Fehlbewertungen können existenzielle Folgen haben, denn bereits ein GdB von 50 löst Ansprüche auf Steuerermäßigungen, besonderen Kündigungsschutz am Arbeitsplatz und kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel aus.

Zeitliche Grenzen behördlicher Entscheidungen

Ein Streitpunkt im Urteil betraf den Wirkzeitpunkt der GdB-Reduzierung. Das Versorgungsamt hatte die Herabsetzung rückwirkend auf den 8. September 2017 datiert, obwohl der Bescheid erst Jahre später erging. Das BSG wertete diese Praxis als rechtswidrig und bekräftigte, dass Änderungen des GdB erst ab Bekanntgabe des Bescheids gelten dürfen.

Rechtsexperten wie Prof. Dr. Michael Bauer von der Universität Köln sehen hier einen Systemwechsel: „Das Urteil beendet die Willkür bei rückwirkenden Kürzungen und zwingt Behörden zur Transparenz. Betroffene können jetzt planen, ohne Angst vor plötzlichen Rückzahlungsforderungen zu haben.“

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Strategien gegen fehlerhafte Bescheide

Wer einen Herabsetzungsbescheid erhält, sollte umgehend handeln. Der erste Schritt besteht im fristgerechten Widerspruch innerhalb von vier Wochen nach Erhalt des Schreibens. Parallel empfiehlt sich die Sammlung aktueller medizinischer Unterlagen – von Arztberichten bis zu bildgebenden Verfahren wie MRT-Aufnahmen.

In einem konkreten Fall aus Schleswig-Holstein reichte ein Multiple-Sklerose-Patient neue MRT-Bilder ein, die entgegen der Behördenbehauptung fortschreitende Lähmungserscheinungen dokumentierten. Das Gericht stellte den ursprünglichen GdB innerhalb von drei Monaten wieder her.

Rechtsschutz bietet dabei die Möglichkeit der Teilaufhebung von Bescheiden. Auch wenn eine GdB-Reduzierung für die Zukunft gerechtfertigt erscheint, bleibt die rückwirkende Komponente anfechtbar. Diese Differenzierung bewahrt Ansprüche auf bereits gewährte Leistungen wie abgeschlossene Steuererklärungen oder genutzte Reha-Maßnahmen.

Neue Dokumentationspflichten für Behörden

Das Urteil verpflichtet Versorgungsämter zu detaillierten Begründungen. Jede GdB-Herabsetzung muss nun konkret auflisten, welche gesundheitlichen Parameter sich verbessert haben und wie diese Veränderung den Gesamt-GdB beeinflusst.

Ein exemplarischer Fall des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg zeigt die praktischen Auswirkungen: Das Gericht kassierte 2023 eine GdB-Reduzierung bei einem Schlaganfallpatienten, weil das Amt zwar verbesserte Mobilität, nicht aber anhaltende Sprachstörungen berücksichtigt hatte.

Positive Auswirkungen des Urteils

Statistiken belegen positive Effekte dieser Reform. Sozialgerichte verzeichnen seit dem Urteil 23 Prozent weniger Klagen gegen GdB-Herabsetzungen bei gleichzeitig 68 Prozent höheren Erfolgsquoten in anhängigen Verfahren. Diese Entwicklung deutet auf verbesserte Entscheidungsqualität in den Ämtern hin – möglicherweise weil Behördenmitarbeiterinnen Fehlentscheidungen durch aufwendige Nachbesserungen vermeiden wollen.

Worauf müssen Betroffene achten?

Bei Erhalt eines Herabsetzungsbescheids lohnt sich die Überprüfung dieser vier Punkte:

Erstens: muss der Wirkzeitpunkt eindeutig „ab Bekanntgabe“ lauten.
Zweitens: sollte die Begründung einzelne Gesundheitsparameter detailliert bewerten – pauschale Aussagen wie „verbesserter Allgemeinzustand“ gelten nicht mehr als ausreichend.
Drittens: müssen die zugrunde liegenden Gutachten aktuellen Untersuchungen entsprechen, die maximal sechs Monate vor dem Bescheiderlass durchgeführt wurden.
Viertens. ist auf korrekte Rechtsmittelbelehrungen zu achten, die über Fristen und Verfahrensoptionen informieren.

Langfristige Veränderungen im Sozialrecht

Dieses Urteil markiert einen Paradigmenwechsel hin zum Schutz erworbener Rechtspositionen. Es spiegelt einen Trend in der aktuellen Rechtsprechung wider, der Behörden zu präziser Begründung verpflichtet und formelle Fehler streng ahndet.

Folgeentscheidungen wie das Urteil (Az. B 9 SB 3/22 R) konkretisieren diese Linie weiter – etwa durch klare Vorgaben für elektronische Zustellverfahren.