Schwerbehinderung: Zu hoch eingestufter GdB heißt nicht automatisch ein Absenken

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Die Herabsetzung eines festgestellten Grades der Behinderung (GdB) ist nur dann zulässig, wenn sich die gesundheitliche Situation eines Betroffenen gegenüber dem letztgültigen Bescheid eindeutig verbessert hat.

Das entschied das Sozialgericht Stuttgart im März 2021 in einem rechtskräftigen Gerichtsbescheid (Az. S 25 SB 4152/18). Nach Ansicht der Richter genügt es nicht, dass eine frühere Diagnose möglicherweise „zu hoch“ veranschlagt wurde. Maßgeblich ist ausschließlich, ob sich die konkreten Funktionsbeeinträchtigungen objektiv verringert haben.

Der konkrete Fall: Von GdB 60 auf GdB 40

Im Zentrum des Falls stand ein Kläger, der zunächst einen GdB von 60 zuerkannt bekam. Dieser Bescheid wurde rechtskräftig und galt als Basis für die Beurteilung seiner Behinderung. Später hob die Behörde diesen ursprünglichen Bescheid auf und reduzierte den GdB auf 40.

Begründet wurde dies mit einer angeblichen Stabilisierung der psychischen Gesundheit: Unter medikamentöser Behandlung liege nur noch eine leicht- bis mittelgradige Depression vor.

Aus Sicht der Behörde lag eine wesentliche Verbesserung vor. Die Entscheidung stützte sich auf einen aktuellen Befundschein eines Facharztes, der keine schwere Depression mehr diagnostizierte.

Die Verwaltung ging daher davon aus, dass die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers nachgelassen hätten. Daraufhin erließ sie einen neuen Bescheid und setzte den GdB auf 40 fest.

Der Kläger akzeptierte diese Herabstufung nicht. Er argumentierte, dass sich seine tatsächliche Lebenssituation kaum verändert hat. Seine Alltagsbelastungen bestünden weiterhin in einem ähnlichen Ausmaß. Die Richterkammer musste nun prüfen, ob eine wesentliche Verbesserung der gesundheitlichen Verfassung tatsächlich vorlag.

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Gerichtliche Würdigung und Entscheidungsgründe

Das Sozialgericht hob den Bescheid zur GdB-Herabsetzung auf. Die Kammer stellte fest, dass keine entscheidende Besserung erkennbar war. Entscheidend war nicht die neue ärztliche Diagnose, sondern die Frage, ob sich der Betroffene im Alltag spürbar leichter zurechtfand. Genau dies sah das Gericht nicht ausreichend belegt.

  1. Relevanter Zeitpunkt für den Vergleich
    Das Gericht betonte, dass für eine Neuberechnung des GdB allein die Veränderungen zwischen dem letzten rechtskräftigen Bescheid und der aktuellen Entscheidung wichtig sind. Ob der ältere Bescheid möglicherweise großzügig bemessen war, spielte laut den Richtern keine Rolle. Der Maßstab bleibt immer der damals offiziell festgestellte Gesundheitszustand.
  2. Fokus auf Funktionsbeeinträchtigungen
    Die Richter prüften in erster Linie, welche konkreten Einschränkungen im alltäglichen Leben vorlagen. Diagnosestellungen wie „schwere“ oder „mittelgradige“ Depression sind Indikatoren. Dennoch sind sie für sich genommen nicht ausschlaggebend, wenn die tatsächliche Belastung nahezu unverändert bleibt.
  3. Nicht ausreichend: veränderte ärztliche Einschätzung
    Die Kammer verwies auf die ärztlichen Unterlagen, die zeitweise eine schwere Depression attestierten. Später nannte man sie „leicht- bis mittelgradig rezidivierend“. Für das Gericht zählte primär, dass der Kläger keine nennenswerte Erleichterung in seinem Alltag vorweisen konnte. Folglich ließ sich eine reale Verbesserung nicht sicher belegen.
  4. Bedeutung der Medikamenteneinnahme
    Die Stabilisierung durch Medikation allein überzeugte das Gericht nicht. Entscheidend sei, ob der Betroffene weniger Beschwerden hat. Eine medizinische Therapie kann zwar Symptome lindern. Wenn der Grad der Funktionsbeeinträchtigung aber großteils bestehen bleibt, rechtfertigt dies keine Herabstufung.

Als Folge dieser Argumentation entschied das Gericht zugunsten des Klägers. Die Herabsetzung auf einen GdB von 40 wurde aufgehoben. Der ursprüngliche Wert von 60 blieb bestehen.

Damit bestätigte das Sozialgericht, dass bloße Abweichungen in der Diagnose nicht genügen. Es bedarf eines deutlichen Nachweises, dass sich das Ausmaß der alltäglichen Einschränkungen reduziert hat.

Hintergrund und rechtlicher Rahmen

Der GdB soll Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Einschränkungen unterstützen. Er dient als Grundlage für Nachteilsausgleiche in Bereichen wie Steuererleichterungen, Parkausweise oder Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis.

Rechtlich geregelt ist die Anpassung eines GdB in § 48 Absatz 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch (SGB) X. Dort ist festgehalten, unter welchen Bedingungen Behörden bestehende Bescheide ändern oder aufheben können.

Viele Verfahren drehen sich um die Frage, ob sich der Gesundheitszustand der Betroffenen tatsächlich entscheidend verändert hat. In Deutschland existiert ein detailliertes Bewertungssystem, das psychische und körperliche Funktionen betrachtet. Sobald das Gesundheitsamt oder andere zuständige Stellen eine relevante Besserung feststellen, erfolgt oft eine Neufestsetzung des GdB.

Dabei muss jedoch zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass sich die funktionellen Einschränkungen verringert haben.

Was bedeutet das für Betroffene?

Betroffene, die mit einer Herabsetzung ihres GdB konfrontiert sind, sollten genau prüfen, ob ihre tatsächliche Leistungs- und Teilhabefähigkeit wirklich besser geworden ist. Die Gerichtsentscheidung zeigt, dass reine Diagnosen zwar ein Indiz liefern, jedoch nicht automatisch zur Herabstufung führen. Wichtig ist eine klare Dokumentation aller Beeinträchtigungen.

Folgende Aspekte können im Verfahren entscheidend sein:

  • Aktuelle Arztberichte: Fachärzte und Therapeuten sollten detailliert ausführen, wie stark die Symptome bleiben.
  • Alltagsbewältigung: Wer immer noch regelmäßige Unterstützung im Haushalt, bei Behördengängen oder bei sozialen Kontakten benötigt, kann argumentieren, dass keine wesentliche Verbesserung eingetreten ist.
  • Medikamenteneinnahme: Eine Therapie kann Symptome lindern, doch darf eine Behörde nicht lediglich auf die Art oder Intensität der Behandlung blicken. Das subjektive Belastungsempfinden und objektive Einschränkungen müssen weiterhin beurteilt werden.

Menschen mit einer psychischen Erkrankung sollten zudem ihre Situation regelmäßig ärztlich überprüfen lassen. So lassen sich notwendige Berichte oder Gutachten frühzeitig erstellen. Das schafft Klarheit, falls eine Behörde später eine Änderung vornehmen möchte.

Praktische Relevanz über den Einzelfall hinaus

Das Urteil illustriert, dass eine wesentliche Änderung nach § 48 Absatz 1 Satz 1 SGB X immer konkret belegt werden muss. Sonst behalten bereits anerkannte Behinderungsgrade ihre Gültigkeit. Gerade bei seelischen Erkrankungen kommt es oft zu Schwankungen im Verlauf. Phasenweise können Beschwerden abklingen, um später erneut aufzutreten.

Das Sozialgericht Stuttgart macht hier deutlich, dass eine zwischenzeitliche Entlastung nicht automatisch bedeutet, dass ein Bedarf für Nachteilsausgleiche entfällt.

Zusätzlich zeigt das Verfahren, dass Betroffene selbst bei konservativer Einschätzung des gesundheitlichen Status nicht verpflichtet sind, „mögliche Anfangsfehler“ der Behörden auszubügeln.

Wer einmal einen GdB zugesprochen bekommt, muss keine Herabstufung befürchten, wenn sich nur die diagnostische Einschätzung ändert. Entscheidend bleibt das Alltagsleben mit seinen konkreten Herausforderungen.