Auch zwei Einzelgrade der Behinderung von 30, deren Auswirkungen unabhängig sind und verschiedene Bereiche des täglichen Lebens betreffen, führen im Regelfall zu einem Grad der Behinderung von 50, und damit zur Anerkennung einer Schwerbehinderung. So entschied das Sozialgericht Aurich (S 4 SB 154/21).
Begehren nach höherer Feststellung des GdB
Der Betroffene begehrte eine höhere Feststellung seines Grades der Behinderung von 50 statt wie zuvor von 40. Damit hätte der die Nachteilsausgleiche einer Schwerbehinderung erhalten.
Sein Grad der Behinderung von 40 stützte sich auf Einzelgrade der Behinderung wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen: chronisch-entzündliches Darmleiden (Einzelgrad der Behinderung 30) sowie Einschränkung der Lungenfunktion (Einzelgrad der Behinderung 30).
Nach einem Teilverlust seines Dickdarms leidet er unter chronisch-entzündlichen Darmbeschwerden, zudem an Migräne, einer Depression, an Schmerzen im Nacken und im Rücken. Hinzu kommen Schlaf-Apnoe und Kurzatmung.
Zusätzlich zum Gesamtgrad der Behinderung von 40 wurde bei ihm ein Einzelgrad der Behinderung von 20 sowie eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 festgestellt.
Migräne und Depression hielt das zuständige Amt medizinisch nicht für ausreichend belegt, um einen Einzelgrad der Behinderung zu rechtfertigen.
Der Betroffene legt begründeten Widerspruch ein
Der Betroffene legte beim Amt Widerspruch ein, den sein Prozessbevollmächtigter ausführlich begründete. Demnach rechtfertigten bereits das schwere Lungenleiden mit einer COPD Grad II nach GOLD und Vorliegen eines Lungenemphysems sowie das beatmungspflichtige Schlaf-Apnoe-Syndrom einen Einzelgrad der Behinderung von 40.
In Verbindung mit dem Darmleiden und weiteren eigenständigen Beeinträchtigungen im Alltag sei eine Schwerbehinderteneigenschaft insgesamt gerechtfertigt.
Das Amt wies den Widerspruch als unbegründet zurück.
Im nächsten Schritt vor das Sozialgericht
Nach der Ablehnung des Widerspruchs und damit dem Ende des sogenannten Vorverfahrens stand dem Betroffenen der Weg zum Sozialgericht offen, und diesen ging er, um seine Forderung einzuklagen.
Im Wesentlichen wiederholte der Prozessbevollmächtigte die Argumente, die er bereits im Widerspruch genannt hatte.
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Bei mehreren Beeinträchtigungen kommt es auf die Gesamteinschränkung an
Das Gericht erklärte, die Einzelgrade der Behinderung von jeweils 30 für das Lungenleiden und die Darmbeschwerden seien richtig bewertet. Bei mehreren Beeinträchtigungen sei zu bewerten, wie diese sich wechselseitig bedingten und insgesamt zu Einschränkungen führten, die dann den gesamten Grad der Behinderung bedingten.
Alle höheren Einzelgrade müssen berücksichtigt werden
Außerdem müssten in der Gesamtbewertung alle die einzelnen Einschränkungen aufgenommen werden, die, für sich genommen, mindestens einen Grad der Behinderung von 20 hätten.
Bei dem Betroffenen liegen jetzt zwei Einzelgrade der Behinderung von jeweils 30 vor, sowie ein weiterer mit einem Grad der Behinderung von 20. Die beiden Einzelgrade der Behinderung von 30 schränkten jeweils unterschiedliche Körperfunktionen ein und wirkten sich so im Alltag unterschiedlich negativ aus. Allein deshalb sei ein Grad der Behinderung von 50 gerechtfertigt.
Keine Ausnahme, sondern die Regel
Diese Beurteilung setzten die Richter nicht als Ausnahme, sondern als Regel und schlossen, dass „in Konstellationen zweier führender Einzel-GdB von 30 die Annahme der Schwerbehinderteneigenschaft nicht nur in begründeten besonderen Fällen, sondern im Regelfall möglich ist.“
Der Betroffene erhielt vollumfänglich Recht und einen Grad der Behinderung von 50.
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Dr. Utz Anhalt ist Buchautor, Publizist, Sozialrechtsexperte und Historiker. 2000 schloss er ein Magister Artium (M.A.) in Geschichte und Politik an der Universität Hannover ab. Seine Schwerpunkte liegen im Sozialrecht und Sozialpolitik. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Dokumentationen für ZDF , History Channel, Pro7, NTV, MTV, Sat1.