Die Feststellung der Erwerbsfähigkeit vom Rentenversicherungsträger gilt ausschließlich für das Sozialamt – nicht für das Gericht
Das Sozialamt verwehrt einem Schwerstkranken Leistungen der Sozialhilfe, weil die Rentenversicherung ihn für nicht – voll erwerbsgemindert hielt.
Der 2. Senat des LSG Baden-Württemberg spricht dem Schwerbehinderten, welcher eine sonderpädagogische Schule besucht, aber Leistungen der Sozialhilfe zu, weil das Gericht seine verminderte Erwerbsfähigkeit fest gestellt hat.
Mit Urteil vom 26.11.2024 – L 2 SO 1981/24 – gibt das Landessozialgericht Baden-Württemberg am heutigem Tage bekannt, dass bei einem Streit um die Leistungsberechtigung nach dem 4. Kapitel des SGB XII die Bindungswirkung nach § 45 Satz 2 SGB XII bzgl. einer vom ersuchten Rentenversicherungsträger festgestellten Erwerbsfähigkeit ausschließlich für den Sozialhilfeträger gilt.
Nicht hingegen aber für die Gerichte
Die Tatsachengerichte haben unabhängig von der Feststellung des Rentenversicherungsträgers die verminderte Erwerbsfähigkeit selbst und umfassend von Amts wegen zu überprüfen und ggf. Beweis zu erheben, in diesem Fall bejahend für einen Schwerbehinderten mit erheblichen kognitiven Defiziten, die dauerhaft bestehen bleiben würden.
Für das Gericht besteht die Bindungswirkung des § 45 Abs. 1 Satz 2 SGB XII nicht (unter Verweis auf Hauck/Noftz, SGB XII, Stand 5. EL 2023, § 45 Rn. 24).
Das Sozialamt verwehrte dem behindertem Antragsteller den Bezug von Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII, weil er nicht voll erwerbsgemindert sei.
Er könne Bürgergeld beantragen, weil er in einer Bedarfsgemeinschaft mit 2 erwerbsfähigen Menschen wohnen würde, seinen Eltern, somit besteht auch kein Anspruch auf Leistungen nach dem 3. Kapitel des SGB XII.
Dem ist aber das Landessozialgericht nicht gefolgt
Denn das Sozialamt verkennt, dass die Bindungswirkung nach § 45 Satz 2 SGB XII ausschließlich für den Sozialhilfeträger und gerade nicht für die Gerichte besteht.
Das Gericht verweist in diesem Zusammenhang auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23.03.2010 (B 8 SO 17/09 R -), in dem das BSG zur Frage der Bindungswirkung an eine Stellungnahme des Fachausschusses der WfbM i.S.d. § 45 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 SGB XII in der bis 31.12.2008 geltenden Fassung, der wortgleich dem seit 01.01.2020 geltenden § 45 Satz 3 Nr. 4 SGB XII entspricht, ausgeführt hat:
„Ob und in welchem Umfang der Sozialhilfeträger – entsprechend § 45 Abs. 1 Satz 2 SGB XII – an die Stellungnahme des Fachausschusses gebunden ist, muss hier nicht entschieden werden. Eine Bindung des Gerichts ergibt sich keinesfalls – weder rechtlich noch tatsächlich; dies gilt ebenso für eine Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, die auf Ersuchen des Sozialhilfeträgers ergangen ist und (nur) letzteren bindet.
Denn wenn ein Antragsteller entgegen der Entscheidung des Rentenversicherungsträgers, die zur Ablehnung von Leistungen nach §§ 41 ff SGB XII geführt hat, geltend macht, er sei auf Dauer erwerbsgemindert, müssen die Gerichte die verminderte Erwerbsfähigkeit des Hilfebedürftigen aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes auch in vollem Umfang von Amts wegen selbst überprüfen können.“
Es ist ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, dass bei Streitigkeiten nach dem 4. Kapitel des SGB XII keine Bindung an Feststellungen des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsminderung besteht
Dass für die Gerichte auch in sozialhilferechtlichen Streitigkeiten nach dem 4. Kapitel des SGB XII keine Bindung an Feststellungen des Rentenversicherungsträgers zur Erwerbsminderung besteht, ist jedenfalls seitdem ständige Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 09.06.2011 – B 8 SO 1/10 R; vom 25.04.2013 – B 8 SO 21/11 R -, vom 25.04.2018 – B 8 SO 20/16 R -; vom 19.05.2022 – B 8 SO 1/21 R -).
Fazit:
Gleichgültig, ob die Behörde ein Verfahren nach § 45 SGB XII zur Feststellung der dauerhaften Erwerbsminderung einleitet und abgeschlossen hat, haben das SG bzw. das LSG unabhängig von der Entscheidung des Trägers der Rentenversicherung die verminderte Erwerbsfähigkeit selbst und umfassend von Amts wegen zu überprüfen und ggf. Beweis zu erheben.
Die in § 45 SGB XII vorgesehene Bindung an die Entscheidung des Rentenversicherungsträgers trifft nämlich nur die Verwaltung, nicht die Gerichte (BSG, Urteil vom 25.04.2013 – B 8 SO 21/11 R -).